Das Jahr der Maus
interessiert.«
Die Ärztin musterte mich skeptisch. Aber da war auch Angst.
»Zunächst einmal«, sagte sie, »muß ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Sind Sie Mediziner?«
»Ja.«
»Gut. Aber möglicherweise ist die Medizin in Ihrem Land … mit wichtigeren Dingen beschäftigt, als mit ihren eigenen Randgebieten. Haben Sie irgendeine Form von spiritueller Schulung genossen?«
»Entschuldigung?«
»Zazen, Yoga, Exerzitien nach Loyola, Wasserkasteiungen, Feuerlauf, Meditation, Tai-Chi, irgend etwas in der Art?«
»Ich meditiere regelmäßig.«
»Hervorragend. Wie gut wissen Sie über Transmedizin Bescheid?«
»Was man in der Zeitung liest.«
»In welcher Zeitung?«
»Science. Nature. Scientific American.«
»Gut. Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit. Aber bei diesem Wissensstand kann ich Ihnen sehr knapp erklären, was wir hier tun. Wir haben uns lange mit den verschiedenen alternativen Medizinen beschäftigt, mit Moxibustion, Schwitzhütten, Meridianen und Chakren, der TCM überhaupt, mit Gesundbeterei, Geistheilung, Voodoo, was sie wollen, Tibet, Haiti, Zaire, Japan, Grönland usw. Kurz gesagt, geht es uns hier darum, aus all den dadurch gewonnenen Erkenntnissen ein wissenschaftliches System der psychischen Beeinflussung zu schaffen, das Menschen mit unerwünschtem Charaktermuster wieder steuerbar macht, und zwar schnell. Dieses System soll skalierbar sein, es soll dem jeweiligen Problem angepaßt sein. Es soll offen sein für neue Entdeckungen, es soll vermittelbar sein. Wir nutzen Feng-shui, Aromatherapie, Wissen aus afrikanischen Initiationsriten, was sie wollen. Vielleicht sollte ich es so sagen: Wir bewegen uns permanent an der Grenze zwischen Wissenschaftlichkeit und Magie und haben dabei nur ein Ziel: Alles, was Menschen erfunden und phantasiert haben, um sich zu helfen, zu stabilisieren, zu heilen, wollen wir zu einem überprüfbar anwendbaren Mittel der sozialen Kontrolle machen. Ich nenne es transmedizinische Regulation.«
Nun hatte sie sich in Feuer geredet, und ich hatte Mühe, rechtschaffen beeindruckt auszusehen. Mein Gott, wie peinlich sie das Wort ›Folter‹ vermied.
Ich wollte mißtrauisch klingen.
»Und das funktioniert?«
Treffer. Das Gesicht von Anita Bethge nahm eine plötzliche Schärfe an. Diese Frage war ihr schon oft von Leuten gestellt worden, die darauf schon ihre eigene Antwort gehabt hatten. Und wie immer nahm Anita den Kampf um ihr Prestige mit aller Konsequenz auf. Eitle Frau.
»Wie ich sehe«, schnaubte sie und zeigte dabei vage in die Richtung meiner Referenzen, »haben Sie eine … konservative medizinische Ausbildung in Ihrem Heimatland genossen. Nichts gegen die wissenschaftlichen Grundlagen unseres Berufsstands, aber die Einsichtsfähigkeit eines Schulmediziners hat nun einmal recht enge Grenzen. Von der weiteren Schmälerung dieser ohnehin schon recht engen Standards durch ihren Export in die Dritte Welt einmal ganz abgesehen.« Sie kam wirklich in Fahrt. Sie glaubte mir. »Aber was die Wirksamkeit meiner Methoden hier angeht, habe ich etwas besseres als die meisten Mediziner mit ihren Statistiken und Berichten. Ich habe den unmittelbaren Beweis.«
Sie stand auf, etwas zu schnell für jemand, der professionelle Würde bewahren will. Sie öffnete eine Schublade, fischte etwas heraus, das entfernt an eine Magnetkarte erinnerte, allerdings dicker und auch etwas größer war, und wollte ohne große Umschweife den Raum verlassen. »Kommen Sie«, rief sie mir noch über die Schulter zu, bevor sie aus dem Türrahmen verschwand. Ich hatte Mühe, mit ihr auf dem Gang aufzuschließen. Neben ihr herlaufend nahm ich wiederum ihr aufdringliches Parfum wahr, und eine absurde Erinnerung rastete ein. Sie roch so ähnlich wie der esoterische Devotionalienhandel, der unter unserem Meditationsraum (›Ashram‹) in der Lausanner Straße untergebracht gewesen war, es war die gleiche Geruchsmelange, die einem dort, zehnfach verstärkt, beinahe den Atem genommen hatte, wenn man den Laden betrat. Der Besitzer des Ladens hatte Fred geheißen. Dort, im Treppenhaus des Instituts zur Erforschung der esoterischen Folter, neben seiner Direktorin, dachte ich an Fred wie an eine Bekanntschaft aus einem anderen Leben. Er war eine Bekanntschaft aus einem anderen Leben. Er hatte in seinem Laden unglaublich viele Räucherstäbchen verbrannt, weil Diebe das angeblich nicht riechen konnten. Als er mir den Grund für den Gestank in seinem Laden erklärt hatte, war ich ohne einen strengen
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