Das Jahr der Maus
Ort geraten, der von nichts als von einer kleinen Steingutschale zusammengehalten wurde, in weiß und mit einem schmalen Streifen Grün an ihrem Rand, und waren da nicht Trauben in der Schale? (Es war keine Schale, sondern eher eine größere Tasse, henkellos). Die Trauben aus Südafrika wagten sich kaum mit dem Stiel aus der Schale hinaus. Und dann natürlich die Sonne, die eine schmale Bahn Spätsommerlicht über Tisch und Schale zog, damit all das gemalt werden konnte von einem Spezialisten für bukolisch angehauchte Stilleben, aber es war keiner da. Nur ich, an diesem Ort der Liebe, mit meinen großen Augen auf der Schale, als würde sich dort etwas verändern über die Zeit, das Licht veränderte sich, das war wohl wahr. Ich wartete auf die Frau, die mich liebte. Es war nun einmal geschehen, daß sich jemand im Dienst in mich verliebt hatte, und ich war in großer Gefahr. Wir Nozizeptoren können an Liebe sterben. Wenn wir zu lieben anfangen, wenn wir wirklich lieben, werden die Türen zu den Häusern des Schmerzes geschlossen. Wenn diese Türen durch Liebe geschlossen sind, sind wir für die Helfer nutzlos. Wenn wir für die Helfer nutzlos sind, werden wir beseitigt. Die Liebe ist für uns Nozizeptoren nur eine Prüfung und nicht auch ein Fest. An diesem Tisch mit der Steingutschale war ich in großer Gefahr, und ich wußte es. Ich wartete auf eine Frau, die mich seit einigen Tagen liebte, aber noch nichts davon gesagt hatte, und meine Seele kam ins Gleiten wie ein Schneebrett, das die Sonne von seinem Untergrund getrennt hat, um es mit einem leisen Aufseufzen ins Tal zu schicken. Die Schale mit den Trauben war nur ein anderes Bild dafür, der letzte Beweis. Auch der einzige andere Nozizeptor, dem ich während meiner Reise über den Weg gelaufen bin, war für den Fall der Liebe nie mit dem Tod bedroht worden, aber als ich ihm von der Steingutschale erzählte, fing er zu lächeln an, denn er wußte Bescheid. Ich saß vor der Schale, und es war still. Eine Küchenuhr tickte. Ich wollte nichts weiter als sehen und mein Herz auftun, damit das dahinterliegende schwarze Herz geschlossen werden konnte. Ich war in unmittelbarer Lebensgefahr. Als ich das Glas, aus dem ich eben noch getrunken hatte, auf den Tisch stellte, zitterte meine Hand. Wenn die Frau zurückkam, war ich verloren. Ich mußte gehen. Meine Jacke glitt in einem Zug von der Lehne des Stuhls, aber ich hatte dennoch Mühe, sie anzuziehen, und als ich sie endlich am Leibe hatte, kam ich mir so eingesperrt darin vor, daß mir der Schweiß ausbrach. Ich drehte mich abrupt um und ging aus der Tür des Zimmers, ich taumelte fast. Im Wohnungsflur dachte ich noch einmal nach. Vielleicht war es besser, von den Helfern abgeschlachtet zu werden als von meinem Gehorsam. Ich überlegte noch, als ich Schritte im Treppenhaus hörte. Je näher die Schritte kamen, desto ruhiger und kühler wurde ich. Ich erwartete das leise Rasseln der Schlüssel (die Frau war ein wenig altmodisch). Ich erwartete das Kratzen des Schlüssels am Schloß. Das Einrasten der Zähne, die Drehung des Zylinders, die Öffnung der Tür, das leise Keuchen und Aufatmen, mit dem sich die Frau von draußen in ihre Wohnung rettete, so hatte ich es nämlich in den letzten Tagen öfter beobachtet. Die Schritte gingen vorbei. Es war nicht meine sachliche Freundin mit dem großen Mund, dem blonden Pagenschnitt und den dunkelblauen Augen gewesen, sondern ein bloßer Nachbar. Ich war ganz ruhig. Ich machte die Wohnungstür auf, und ging hinaus in den Flur, in dem so altmodische und unwahrscheinliche Dinge vorkamen wie eine echte Holztäfelung und verwaiste Halterungen für Gaslampen; so alt und edel wohnte meine sachliche Freundin, die meinen Gehorsam erschüttert hatte. Ich ließ die Tür offen. Auch das ist natürlich eine Sünde, die sich an mir rächen wird.
Die Fee, die vorhin in das Abteil gekommen ist, sitzt immer noch hier.
Und der Tod der Ärztin war ebenfalls sachlich. Ich wollte das dunkle Gebräu, das Thorsten Spohn in mir hinterlassen hatte, schnell wieder aus mir entfernen, es war ein dermaßen überwältigender, wenn auch dumpfer Schmerz, daß ich all meine Endorphine tanzen ließ, um ihn in Schach zu halten. Alle Nozizeptoren sind Endorphinjunkies, weil sie sonst ihren Beruf nicht ausüben könnten. Blankenese war noch stiller als sonst, so nah am Winter. Ich war relativ leicht durch die Sicherheitsbarriere gekommen, denn Anita hatte mir eine Einladung mitgegeben, auf Magnetkarte. An
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