Das Jahr der Maus
Wiedereingliederung. Er ist jetzt buchstäblich ein anderer Mensch als zur Zeit seiner Verhaftung. Er ist anders geworden. Er würde nie mehr zu seinen Freunden von früher zurückgehen. Er weiß jetzt, daß er Unrecht getan hat, die ganze Zeit. Wie lange brauchen Sie in Ihrem Land zur Erzielung solcher Ergebnisse?«
Mir war danach, ein wenig dicker aufzutragen als bisher, und anzudeuten, daß wir meistens praktisch nur zwei bis drei Minuten brauchten, bis ein Revoluzzer nicht mehr zu seinen Freunden zurückkehren konnte, aber die schärfste Waffe gegen diese Frau war ihre eigene Eitelkeit.
»Ein halbes Jahr, ein ganzes, wer weiß.«
»Also im besten Fall ein halbes Jahr«, triumphierte die schöne Ärztin mit strahlenden Augen. Sie war dabei, diesem Schmalspurplayboy heimzuleuchten. »Und ist es nicht vorgekommen, daß sich einige ihrer rebellischen Gefangenen nach ihrer Entlassung oder ihrem Ausbruch ins Ausland abgesetzt und amnesty international unangenehme Dinge über ihre Haft erzählt haben, die sie auch noch mit schlecht verheilten Narben auf ihrem Rücken belegen konnten?«
Ich stimmte seufzend zu, als sei ich beschämt. Thorsten hatte die ganze Zeit zu uns heraufgesehen, aber man merkte am blinden Herumirren seiner Säuglingsaugen, daß er uns nicht sah. Immerhin war er noch in der Lage, hinter der Wand, die mit ihm sprach, die Ärztin zu vermuten.
»Unser Thorsten hier würde das nach der Wiedereingliederung nie tun, obwohl wir ihn erst seit drei Wochen hier haben«, sagte Anita versonnen. »Erstens gäbe es keine Narben. Zweitens würde es Thorsten gar nicht einfallen, sich zu beschweren. Er hätte einfach keinen Grund dazu.« Sie drückte wieder auf das Gerät in ihrer rechten Hand und wandte sich an Pinocchio, der ein wenig unruhig hin- und herruckte und in seinem verknorpelten Mund Luft kaute.
»Möchtest du uns etwas sagen, Thorsten?«
Ob es dieser kleine Versprecher der Ärztin war, der klar machte, daß sie hier jemand zur Fleischbeschau mitgebracht hatte, ob Thorsten schon vorher meine Anwesenheit vielleicht geahnt hatte, er begann jetzt sehr heftig, Luft zu kauen, und seine Gedanken trafen mich wie ein Hammer.
… sie stoßen mich mit nadeln aus eis sie kommen in der nacht und leuchten sie sind gute menschen sie geben mir alles was ich will und was ich nicht will dieser raum ist verrückt ich bin verrückt sie verfolgen mich in den träumen die bücher sind verkehrt gedruckt das radio spricht nur für mich sie machen sieben kleine feuer in mir die brennen so lang und glutig mein hirn ist blutig ich trainiere das täglich die situation zu bestimmen handeln wach gespannt das kräfteverhältnis richtig einschätzen und die reaktion zum richtigen reflex trainieren training ist gut training ist wichtig damit ich körperlich bei kräften bleibe für die zeit danach sagen für die zeit wenn ich geheilt bin sie stoßen mich ohne da zu sein, sie räuchern mich aus sie stoßen mich mit nadeln aus eis …
Mit einem leichten inneren Knacken gab das kleine Ventil nach, und das zweite Haus des Schmerzes wurde brennend, brechend mit rotem Kot aufgefüllt, bis unters Dach.
Anita, die meine Reaktion für typisch südländische Weichmännerei hielt, wenn es aufs Ganze ging, setzte zum Todesstoß an.
»Nicht die Menschenrechtsorganisationen sind ihr Problem, Herr Muntadas. Veraltete Technik: Das ist ihr Problem. Und zu wenig Respekt vor dem Machbaren.«
Immer noch wurde das laute, sprachlose Schmatzen zu uns übertragen, aus unsichtbaren Nanofonen, die Thorsten nach seiner Verhaftung gegessen hatte, und die jetzt direkt aus seiner Zunge sendeten.
»Schluß jetzt«, sagte Anita, und der Holzmann lief auf seinen Staketenbeinen zu dem Bett zurück, setzte sich und ließ den Kopf nach vorne fallen, weil die Nackensehnen wieder durchtrennt worden waren.
Auf dem Weg zurück in Anitas Büro entwickelte ich mehr und mehr Begeisterung für die Richtung, den der medizinische Fortschritt unter dem Druck ihrer sanften, spirituellen Hände nahm. Ich geriet in einen gewissen südamerikanischen Überschwang, der mir positiv zu Gesicht stand. Anita wollte mir gern dabei behilflich sein, die Methode der transmedizinischen Regulation in meinem Land bekannt zu machen. Sie sagte:
»Übrigens können wir diese Dinge auch gern privat besprechen. Sagen wir morgen abend?«
Ich verneigte mich galant.
»Gerne, Frau Dr. Bethge«, sagte ich lächelnd.
… und bin ich nicht einmal auf dieser meiner Reise an einen
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