Das Jahr der Maus
hatte ich mich an diesen Ort geschrieben.
Ich hatte mich schon immer bemüht, an das zu glauben, was ich schrieb, aber die jetzige Situation war beim besten Willen nicht mehr zu überbieten.
Ich stand ein wenig unsicher auf den Beinen.
Vielleicht würde ich zurück nach Hause gesogen werden, sobald ich völlig nüchtern war. In der Zwischenzeit hatte ich es nicht sonderlich eilig. Diese Erfahrungen würden mir alle beim Schreiben der Bücher zugute kommen.
Am meisten sehnte ich mich nach einem Drink.
Ich machte mich auf den Weg zu dem Dorf und wünschte, ich hätte es mir nicht in so großer Entfernung vorgestellt. Da es sich hierbei um eines von meinen Büchern handelte, würde die Ansiedlung mit Sicherheit über einen Pub verfügen. Ich meine natürlich eine Taverne oder eine Schenke – die pseudo-mittelalterliche Terminologie sollte schon stimmen. Was auch immer ich schrieb, es gab stets eine Kneipenszene, sogar in den Kinderbüchern.
Während ich die flache und trostlose Gegend durchschritt, schlich sich ein zermürbender Gedanke in mein Bewußtsein.
Womöglich war ich überhaupt nicht ich selbst.
Vielleicht war ich gar nicht infolge der Braukunst hierhergezaubert worden, und vielleicht war ich auch nicht derjenige, für den ich mich hielt. Statt dessen könnte es sich bei mir lediglich um das Produkt eines anderen handeln – des Autors, der mein Alter ego, mein Erschaffer war. Und dieser Jemand saß nach wie vor an der Tastatur und schrieb all das hier.
Verfügten die Charaktere, die seiner/meiner Phantasie entsprangen, über ein unabhängiges Eigenleben? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht.
Führten meine zahllosen Protagonisten in den Welten und Situationen, die ich erfunden hatte, ihr Dasein einfach weiter, auch wenn das Buch oder die Geschichte zu Ende war? Oder waren sie dazu verdammt, alles immer wieder von neuem zu durchleben, sobald jemand mit der Lektüre begann? Liefen sie auf einem Möbiusband, waren sie hilflos auf einem wirbelnden kosmischen Karussell gefangen?
Eine furchtbare Existenz, ganz gleich, welche Theorie zutraf – vor allem für diejenigen, deren Dasein ein schreckliches Ende genommen hatte. Sie mußten ihren Todeskampf immer wieder von vorn durchleiden.
Ich hatte mir um meine Charaktere sogar noch weniger Gedanken gemacht als um meine Leser, was fast schon einer mathematischen Unmöglichkeit gleichkam, denn die Leute, die mein Zeug lasen, waren mir ziemlich egal – abgesehen von den wichtigen Personen, den Entscheidungsträgern: Agenten, Herausgeber, Lektoren.
Aber ich war ich, davon war ich überzeugt. Eine lebende, atmende Person, kein Fragment meiner eigenen Vorstellungskraft. Ich fühlte mich wie ich, und ich war sicher, daß ich auch so aussah wie ich – aber letztendlich basieren alle meine Protagonisten auf mir persönlich. In jedem von ihnen stecke ich selbst, das geht gar nicht anders. Sogar meine weiblichen Helden stellen Aspekte meiner eigenen Identität dar.
Inzwischen hatte ich einen Drink wirklich bitter nötig.
Die Taverne befand sich genau dort, wo ich sie mir vorgestellt hatte, und ich stieß die Tür auf. Im Innern war es dunkel, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob der Laden zur Zeit überhaupt geöffnet hatte. Aber dann wurde mir klar, daß es hier keine amtlichen Schankkonzessionen gab – dieser Ort funktionierte schließlich nach meinen Regeln.
Die Schenke unterschied sich nicht sonderlich von meiner Stammkneipe. Genaugenommen waren alle Bars, über die ich je geschrieben hatte, nur spärlich veränderte Ausgaben meines Lieblingspubs. Statt Stühlen gab es hier hölzerne Schemel und Bänke, und der Boden war mit Stroh bestreut. Die Zigaretten- und Spielautomaten waren verschwunden, ebenso die Dartscheibe und der Billardtisch. An den entsprechenden Standorten befand sich jeweils eine freie Fläche. Genau wie in der umliegenden Landschaft herrschte auch hier der Eindruck einer gewissen Leere vor, die darauf wartete, gefüllt zu werden. Allerdings trat dieser Eindruck hier noch deutlicher zutage.
Im Hintergrund saßen ein paar Leute herum, schattenhafte Figuren, die an dem Ale in ihren Zinnkrügen schlabberten. Sie alle trugen die grobe Kleidung der entsprechenden Epoche – ich hatte an irgendeinen Zeitpunkt im England des elften bis fünfzehnten Jahrhunderts gedacht. (Es lohnt sich nicht, allzu präzise zu sein, und außerdem stört sich sowieso niemand daran.)
Keiner der Einheimischen schenkte mir auch nur die
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