Das Jahr der Maus
genau hinzuschauen, denn alles sah viel zu real aus.
Die Geschichte lief in die falsche Richtung. Die anderen Charaktere gewannen die Oberhand. Das war auch früher schon passiert, aber ich hatte in jenen Fällen dennoch stets das Gefühl der Kontrolle gehabt und der Erzählung gestattet, von selbst in Fahrt zu kommen und verschiedene unerwartete Wendungen zu nehmen.
Der vorderste Reiter zügelte sein Pferd. Von seiner zweischneidigen Axt tropfte etwas, das ziemlich genau wie Blut aussah. Ich erkannte ihn sofort: Es war kein anderer als der schändlichste und widerlichste aller Übeltäter, die jemals diese Welt durchstreift hatten – der Dunkle Herrscher höchstpersönlich. (Dessen Namen ich mir übrigens auch noch ausdenken mußte.) Er war es, mit dem ich – vielmehr mein archetypischer Held – am Ende des Zyklus einen gigantischen Zweikampf bis zum Tod ausfechten würde.
Bis zu seinem Tod.
Zumindest war das der Plan. Aber es sah nicht so aus, als würde er so lange bis zu unserer endgültigen Konfrontation warten wollen.
Seine üble Streitmacht hatte angehalten; sie verharrte hinter ihm. Die geisterhafte Gestalt kam langsam auf mich zu, ihr Roß durchwatete den Fluß. Ein weiteres Pferd schloß sich an; seine Reiterin war in schwarze Gewänder gehüllt. Dies war seine engste Verbündete, die teuflische Zauberin, deren Magie ihn vor jedwedem Schaden beschützte.
»Äh … hallo, wie geht’s?« sagte ich. Ich sprach, so schnell ich konnte und versuchte, das Zittern meiner Stimme so gut wie möglich zu verbergen. »Ich bin der Kerl, der dich erschaffen hat, also würde ich vorschlagen, daß du nichts unternimmst, das dir leid tun könnte. Ohne mich würdest du gar nicht existieren.«
»Warum glaubt ihr Leute nur immer, ihr wärt so unentbehrlich?« fragte der Anführer der Barbaren und zog sich die Tiermaske vom Gesicht.
Er lächelte mir auf die gleiche rätselhafte Weise zu wie neulich, als er mir mitgeteilt hatte, daß wieder eines meiner Bücher verramscht worden war.
Derek, mein Lektor.
Ich mußte mir wohl vorgestellt haben, daß der Dunkle Herrscher und Derek sich ähnlich sahen – obwohl es ein paar deutliche Unterschiede gab: die angespitzten Zähne, all die purpurroten Tätowierungen auf der Haut und die rituellen Narben auf den Wangen. Es sah irgendwie vorteilhafter aus.
Die schwarze Hexe hielt neben ihm inne und lachte grausam, während sie mit klauenähnlichen Fingern den Schleier beiseite riß, der ihr Gesicht verhüllte.
Karen, meine Agentin.
Ich hatte immer geglaubt, sie wäre auf meiner Seite, aber ein Teil von mir mußte die Wahrheit erkannt haben, und daher hatte ich sie mir als die teuflische Begleiterin des Bösewichts vorgestellt. Schließlich trafen Karen und Derek sich wesentlich öfter, als ich einen von beiden zu Gesicht bekam. Sie aßen zusammen zu Mittag, gingen zusammen einen trinken – und wer wußte schon, was sie sonst noch zusammen machten?
»Kannst du ein Pferd reiten?« fragte Derek mich.
Ich hatte noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen, aber die Frage kam so überraschend, daß ich nichts erwiderte.
»Kannst du kämpfen, ein Schwert führen und mit Pfeil und Bogen umgehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Bist du der größte Zauberer aller Zeiten? Bist du ein mächtiger Kriegsherr, der eine Armee ausheben und auf einem Rachefeldzug anführen kann?«
Ich zuckte die Achseln.
»Dann wirst du uns nicht sonderlich viele Schwierigkeiten machen, oder?« stellte Derek fest.
Er hatte nicht ganz unrecht.
Derek lachte brüllend, und Karen fiel kreischend ein. Meine Nackenhärchen stellten sich auf. (Ein Klischee, ich weiß, aber hin und wieder passiert das tatsächlich – in jenem Moment zum Beispiel.)
Sie rissen gleichzeitig ihre Pferde herum und galoppierten zurück über den Fluß. Das Donnern von Hufen, eine riesige Staubwolke, und dann waren sie und ihr widerliches Gefolge im Nebel verschwunden.
Sie würden die ganze Welt ausplündern und brandschatzen, und ich konnte nichts dagegen tun. Das hier war nicht länger mein Exposé, mein Plot, mein Buch.
Ich war mal wieder gründlich lektoriert worden.
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Originaltitel ›NOW READ ON‹ • Copyright © 1990 by David Garnett • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, September 1990 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 2000 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Übersetzt von Thomas Haufschild
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Dirk Strasser • Australien
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