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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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geringste Beachtung, und als ich die Leute genauer in Augenschein nahm, wurde mir auch der Grund dafür bewußt.
    Sie hatten keine Gesichter.
    Ich machte mir nur äußerst selten die Mühe, jemanden zu beschreiben – ›groß/klein‹, ›dick/dünn‹ oder ›alt/jung‹ waren zumeist die einzigen Angaben, die ich lieferte. Ich hatte es immer vorgezogen, das Füllen dieser Lücken der (hypothetischen) Phantasie des Lesers zu überlassen. Und daher hatte ich auch die Gäste dieser Schenke mit keinerlei Eigenschaften ausgestattet. Sie waren lediglich Requisiten, es spielte keine Rolle, wie sie aussahen … ob sie überhaupt Gesichter hatten. Es handelte sich bloß um Statisten ohne Text, aber ich stellte erfreut fest, daß sie immerhin dreidimensional waren – nicht die üblichen Pappschablonen, auf die von den Kritikern immer wieder mit Vorliebe hingewiesen wurde.
    Ich ging zum Tresen, der einfach nur aus einem grob behauenen Tisch bestand, auf dem ein Faß Bier lag. Ich erkannte das Mädchen, das dort stand; sie hatte ein Gesicht. Es war Jenny, die Bedienung in meinem Pub zu Hause, und sie trug traditionelle Bauernkleidung anstatt ihrer üblichen engen Bluse und des geschlitzten Rocks.
    Inzwischen hätte das Mädchen – okay, sie war Mitte zwanzig und somit kein Mädchen mehr, aber die Auswirkungen des Feminismus auf die Neubewertung der Geschlechterrollen sind noch nicht in die Regionen der Fantasy vorgedrungen – inzwischen also hätte sie mir ein Pint meiner Lieblingssorte gezapft. In dieser Dimension jedoch hatte sie mich noch nie zuvor gesehen.
    »Einen Krug Ale, Mädchen«, sagte ich.
    Ich konnte in sieben Sprachen ein Bier bestellen, aber an diesem Ort würde es ohnehin keine Probleme geben. Jeder hier würde das Englisch des zwanzigsten Jahrhunderts sprechen. Ich haßte all diesen gestelzten Quatsch, obwohl ein paar altertümliche Begriffe hin und wieder okay waren – und ich würde darauf achten müssen, daß keiner der anderen das Wort ›okay‹ benutzte.
    »Ja, Herr«, erwiderte sie und deutete sogar eine leichte Verbeugung an. Das gefiel mir.
    Dies war einer der größten Reize eines Fantasyromans. Der Leser identifizierte sich mit dem Helden oder der Heldin, die stets jemand von Bedeutung waren, ein Prinz oder eine Prinzessin, auf jeden Fall aber adlig. Wer wollte schon etwas über die Leibeigenen oder Bauerntrampel lesen? Das übliche Schema sah vor, daß der Protagonist zunächst ein Niemand zu sein schien, doch in Wirklichkeit war er der wahre Erbe eines Königreichs und würde am Ende des Buchs/der Trilogie/des Zyklus erneut seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron einnehmen.
    Und mein Protagonist war hier wirklich von Bedeutung: Es war sein Schicksal, die Welt zu verändern. Er war ein Gott, wenngleich er das anfangs noch nicht wußte. Wenn man ohnehin auf Status aus ist, kann man sich auch gleich die oberste Riege vornehmen.
    »Ist dein Name nicht Jennifer?« fragte ich, während das Mädchen mein Bier in den Krug laufen ließ.
    Sie nickte. »Ja, Herr«, entgegnete sie abermals.
    Ich war mir nicht sicher, ob Jennifer ein geeigneter mittelalterlicher Name war, aber er würde genügen müssen. Mein Drink schmeckte furchtbar, doch ich konnte nicht sagen, ob das an dem Ale oder an meinem Mund lag. Ich stürzte die Hälfte hinunter und fühlte mich sogleich viel besser. Dann setzte ich mich in eine der Ecken. Jen behielt mich weiterhin im Auge, und zunächst dachte ich, das könnte vielleicht an meiner Kleidung liegen – Sweatshirt, Cordhose und Turnschuhe. Aber ich erkannte den wahren Grund, als sie verschwand und kurz darauf mit Terry zurückkam: Ich hatte mein Getränk nicht bezahlt.
    Da kam ein Problem auf mich zu.
    Terry war der Wirt, sowohl bei mir zu Hause als auch hier. Er war groß und dick, und ich war mit ihm immer gut zurechtgekommen, aber er gehörte nicht zu der Sorte von Leuten, gegen die man sich irgendwelche Freiheiten herausnehmen konnte.
    »Terry.« Ich nickte ihm grüßend zu und hob meinen Krug mit einer Hand in seine Richtung. Mit der anderen suchte ich in meiner Hosentasche herum.
    Terence klang sogar noch anachronistischer als Jennifer, aber ich hatte jetzt wirklich andere Sorgen. Ich hatte keinerlei Münzen bei mir – nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte, weil man sie hier kaum als rechtmäßiges Zahlungsmittel akzeptieren würde –, aber in meiner Gesäßtasche fand ich eine Zehnpfundnote. Das wäre vermutlich genug Geld gewesen, um das ganze Dorf aufzukaufen.

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