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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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mich nicht in meinem eigenen Roman befand, sondern in der Geschichte eines anderen …?
    Das war schon vorgekommen. Kollegen hatten mich dann und wann tückischerweise als Nebenfigur in ihren Romanen verwendet. Meistens starb ich einen besonders grausamen Tod. Ich hatte mit ihnen das gleiche gemacht, ihre Namen benutzt und sie dann brutal verstümmeln und ermorden lassen. Das war alles nur Spaß, trotz der ausgeprägten Rivalität, die sich dicht unter der Oberfläche verbarg.
    Nein, auf diesen Fall traf das bestimmt nicht zu. Das hier war meine Welt, meine Schöpfung. Niemand sonst hatte bislang das Exposé gelesen, also konnte ich auch nicht das Opfer eines literarischen Vampirs sein – eines Plagiators. Niemand konnte von mir abgeguckt haben. Schließlich war das mein Pub, aus dem man mich soeben hinausgeworfen hatte.
    Nachdem ich mich gesäubert hatte, setzte ich mich am Flußufer hin und wartete darauf, daß meine Kleidung trocknete. Eigentlich war das gar kein richtiger Fluß. Genaugenommen sah es eher wie der Abwassergraben aus, in dessen Nähe ich als Kind immer gespielt hatte.
    Ich versuchte, mich mit dem Gedanken aufzumuntern, daß meine mißliche Lage eventuell noch weitaus schlimmer ausgefallen wäre, falls ich mich in einem meiner anderen Bücher befunden hätte.
    Was wäre zum Beispiel, wenn ich mich in einem meiner Horrorromane wiedergefunden hätte? Ich wäre gewiß auf die eine oder andere blutrünstige Weise zu Tode gekommen, und alles infolge meiner eigenen Einfälle und nicht dank der verschrobenen Phantasie irgendeines anderen Schreiberlings. Oder in einer Liebesgeschichte, dazu verdammt, fortwährend ein junges unschuldiges Mädchen anzuhimmeln, das auf ewig Jungfrau bleiben würde – was für ein Alptraum! Eine wirkliche Horrorstory! Doch wenigstens war dies keine Novelisation, was bedeutet hätte, für alle Zeiten in einem ›Buch zum Film‹ oder – noch schlimmer – in einem ›Buch zur Fernsehserie‹ gefangen zu sein, mit winziger Besetzung und billigen Kulissen.
    Ersatzweise hätte ich in einem Porno landen können. Das hätte bestimmt sehr viel mehr Spaß gemacht, obwohl es ziemlich anstrengend gewesen wäre.
     
    Während ich noch über diese weitaus reizvollere Aussicht nachsann, riß mich plötzlich ein verzweifelter Angstschrei aus meinen Betrachtungen. Ich stand auf und sah, daß am anderen Flußufer ein Mädchen in meine Richtung lief.
    Sie bemerkte mich und blieb stehen. Ich war lediglich mit meiner Unterhose bekleidet, und sie trug auch nicht sehr viel mehr – einen kurzen Lederrock, ein knappes Oberteil aus Seide sowie Sandalen, deren Riemen fast bis zu den Knien reichten. Das Mieder des Mädchens war durchsichtig, und Büstenhalter waren noch nicht erfunden worden.
    Ich erkannte sie sofort. Sie war die Prinzessin in meinem Buch. Selbstverständlich war sie wunderschön; schließlich gehört das zu den grundlegenden Anforderungen für diesen Job.
    Obwohl ich Beschreibungen hasse, muß ich mich der allgemeinen Gepflogenheit beugen, die physischen Attribute der weiblichen Charaktere aufzulisten. Das Klischee der ›langbeinigen, großbrüstigen Blondine‹ ist mir schon immer zuwider gewesen, weil ich es als zu ausgelutscht und formelhaft empfinde. Aber es führte kein Weg daran vorbei, daß diese Beschreibung auf das Mädchen vor mir hundertprozentig zutraf.
    Auf einmal schien alles wieder plangemäß zu verlaufen. Ich befand mich wieder in meinem Exposé. Hier war meine Heldin, das Mädchen, das mein Charakter sich letztendlich zur Braut nehmen würde, sobald er Gottkaiser der Werld geworden war. Aber zuvor würde sie die üblichen Demütigungen ertragen müssen: Sklaverei, Vergewaltigung, mehr Sklaverei, noch mehr Vergewaltigung. Und meine Rolle würde sich ebenfalls nicht besonders einfach gestalten: Man würde mich jagen, fangen, foltern, und ich würde einige Male entfliehen können – die normale Routine eben.
    Hinter all dieser Sklaverei, Vergewaltigung und Folter standen die dunklen Mächte (häufig auch mit großen Anfangsbuchstaben als die Dunklen Mächte bezeichnet), die Chaos und Zerstörung über die Welt bringen wollten. Ihre Rolle war besonders klischeehaft, doch sie schienen stets weitaus mehr Sympathien auf sich vereinigen zu können als die Legionen des Lichts. Die Guten waren meistens ein Häuflein Weicheier, aber ich hatte sie trotzdem ständig am Hals, denn letzten Endes blieben sie immer die Gewinner. Genau das wurde von den Lesern erwartet – das

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