Das Jahr der Maus
Schaufensterpuppen nachzuahmen. Küß die Hand, gnä’ Frau. Ich denke an die Fee im Zug, und habe plötzlich Lust; sobald ich das merke, werde ich zu müde dafür und muß mich am Geländer abstützen. Noch drei Stunden bis zum Zug nach Warschau.
Als ich aufwachte, schmerzte mein ganzer Körper. Die Zelle war hell erleuchtet. Die Finger meiner linken Hand klebten von angetrocknetem Blut. Es fühlte sich an, als sei ein dritter Zahn verschwunden. Eine oder mehrere Rippen schienen angeknackst oder gebrochen. Ich lag in einer stinkenden Lache von Urin, der allerdings nicht von mir stammen konnte, denn meine Hose ab dem Gürtelbund war trocken. Mein drittes Haus war randvoll mit der Wut und dem Haß der Polizisten. Ich hatte einen Job zu erledigen. Ich wusch mich von dem Schmerz mit einer massiven Welle von Endorphinen rein, die Gefühllosigkeit rann an mir herab wie köstliches Wasser. Ich veränderte mich in A. Ich reparierte die Schäden, stopfte meine zerrissene Haut mit Gerinnungs- und Wundheilungsfaktoren, schiente die Rippen mit neuen, schnellwachsenden Knochenzellen, richtete meine Nase gerade. Am schwierigsten waren die Zähne; Zähne sind ein anspruchsvolles Konstrukt, ich brauchte all meine Kraft und auch ein wenig Reservekalzium aus meinen anderen Knochen, um sie wachsen zu lassen. Als ich mich von dieser Erschöpfung erholt hatte, glich mein Gesicht dem von A. aufs Haar. Während ich C. zu seinem Kontrollgang heranschlurfen hörte, setzte ich mich mit dem Rücken zur Tür auf die Pritsche. In der angetrockneten Lache von Blut und Urin auf dem Boden war mein Abdruck noch zu erkennen. C. schloß die Tür auf und stockte ein wenig, ich konnte es an seinem Schritt hören. Wahrscheinlich war er den Anblick eines Häftlings, der in der ersten Nacht schon wieder aufrecht sitzen konnte, nicht gewöhnt.
»Ja, was ist denn hier los?« tönte er in meinem Rücken. »Steh auf, Arschloch.«
Er mußte ein wenig näher kommen, deswegen reagierte ich noch nicht. Plangemäß trat er in die Falle seiner eigenen Wut.
»Aufstehen, hab ich gesagt, Scheißkanak!«
Und ich gehorchte, und drehte mich im Aufstehen um. Sah ihn aus den Augen und dem Gesicht seines Abgotts, seines eigenen Herrn und Meisters an, und er war völlig wehrlos. Er hatte noch nicht einmal seine Pistole gezogen, da hatte ich ihn schon berührt, und ihm zurückgegeben, was er mir angetan hatte. Seine Lider senkten sich träge. Er knickte in den Knien ein, und murmelte mit einer aschgrauen Stimme: »Bin müde.« Das wirst du ab jetzt immer sein, dachte ich, und fing ihn in meinen Armen auf. Es ging ihm gut. Ich konnte sein Herz schlagen spüren. Ich legte ihn auf den Boden, dorthin, wo sie mich zurückgelassen hatten. Ich lehnte mich mit dem Gesicht zur Wand an die Kacheln neben der Eingangstür. Als er zu lange nicht zurückkam, wollte B. nach ihm suchen. B. war nicht nur voll geiler Gewalt, er war auch dumm, denn als er seinen Kollegen auf dem besudelten Boden liegen sah, stürzte er, an mir vorbei, mit gezogener Pistole in die Zelle. C. lallte etwas, als B. mich entdeckte. Er packte mich an meinem linken Oberarm, um mich herumzudrehen, wahrscheinlich wollte er mich auf der Flucht erschießen, hatte aber in der engen Zelle Angst vor einem Querschläger und wollte mich zur Exekution unter den Türstock stellen. Im Schwung, mit dem er mich nach hinten riß, riß er den Rest aus dem dritten Haus aus mir heraus und in sich selbst hinein. Er erstarrte, als ich ihm voll ins Gesicht sah. In seiner Stirn, knapp oberhalb seiner linken Augenbraue, bildete sich ein kleiner Krater, der an den Rändern gerötet war, vertiefte sich nach innen, während Blut auszutreten begann, und bildete schließlich einen Tunnel in seinen Kopf hinein, der einer Schußwunde sehr ähnlich sah. Schnelles kleines Apoptosenwunder. Sein Auge zwinkerte nicht, als ihm das Blut hineinlief. Ich brauchte ihn nur noch anzutippen, und er stürzte nach hinten wie ein gekippter Holzbalken. Er lag dann quer über seinem Kollegen. Ich hob eine der Pistolen auf, die zu Boden gefallen waren und ging A. und D. suchen. Der Gang war in zwei verschiedenen Arten Grün gestrichen, die Trennlinie lief etwa in Schulterhöhe an der Wand entlang. Beinahe hätte ich mich verlaufen, fand sie aber dann doch in ihrem Dienstzimmer, wo sie sich gerade aufmachten, um uns holen zu kommen. In der vollkommenen Stille ihrer Überraschung gelang es mir, die Tür hinter mir zu schließen.
»Setzt euch bitte wieder«,
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