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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Licht, das von der andern Seite der Welt kam, und das er zur Übertragung von 100 Terabytes pro Millisekunde brauchte. Der Checkpoint der Miliz leuchtete wie ein Glaskäfig für Versuchsratten an Weihnachten. Als der Milizionär die Karte durch das Lesegerät gezogen hatte, wurde es noch heller. Zwei seiner Kollegen wuchsen aus dem Boden und zeigten mir ihre Maschinenpistolen von vorne. Sie trugen Handschuhe.
    »Was ist das hier«, fragte ich, wirklich überrascht.
    »Halten Sie den Mund. Sie sind verhaftet.«
    Einer schob mich mit seinem Lauf hinter die gelbe Linie, auf der ich bis dahin gestanden war, jenseits dieser Linie begann der Zuständigkeitsbereich der regulären Polizei, und er wollte dafür sorgen, daß auch meine Zehen mitverhaftet wurden. Und weil er selbst zwar außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs stand, seine Waffe aber die Grenze vom Jenseits ins Diesseits überbrückte, hatte alles seine rechtliche Ordnung. Jetzt erst fiel mir die Videokamera auf, die ihr Zyklopenauge auf unsere kleine Spielszene gerichtet hatte, eigentlich brauchten Videokameras nicht so groß zu sein, also sollte diese gesehen werden. Lächeln! Vögelchen! Ich lächelte und dachte: Scheiße.
     
    Die Polizei kam in einer Art gepanzertem Jeep, wie er auch in den No-go-areas der großen Städte benutzt wurde. Die Besatzung, vier Mann hoch, trug schnittige Barette statt der altbackenen Mützen, ein jeder von ihnen war mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Der Milizionär, der mich festgenommen hatte, wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da brachte ihn der polizeiliche Rottenführer mit einer ablehnenden Handbewegung zum Schweigen. Milizionäre wurden von Polizisten als minderwertig erachtet, der Milizionär spuckte zur Seite aus. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah es so aus, als wolle der Polizist darauf reagieren, dann fragte er bloß:
    »Sind die Ärzte schon drüben?«
    Nun bekam es der aufsässige Milizionär mit der Angst: »Ich … wir … wir hatten noch keine Zeit.«
    »Vollidiot«, sagte der Polizeifeldwebel, und befahl seinem Kommunikationsbeamten, sofort einen Trupp vom Universitätskrankenhaus anzufordern, denn Anita lag auch der Polizei am Herzen, natürlich. Dann erst sah der Befehlshaber mich an. Er trug sein Barett ein wenig schnittiger als die anderen, hatte einen Stern mehr auf den Schulterklappen als seine Kollegen, machte einen durchtrainierten Eindruck und sah mich an wie ein unangenehmes Insekt. »Sie sind das also«, sagte er, und ich sollte mich wohl fragen, was das zu bedeuten hatte. Als ich in den Jeep geschoben wurde, tickte einer der Bullen wie zufällig meinen Kopf am Türrahmen an, allerdings genau an einer Stelle, an der eine scharfe Kante vorstand, sofort begann es aus der Platzwunde zu bluten. Der Befehlshaber sah den Kopfticker durchdringend an, wie etwa, um zu sagen: Hab ich dir nicht erklärt, daß du das lassen sollst? Der Kopfticker senkte den Blick, plazierte sich auf der mittleren Sitzbank neben mir und legte seinen rechten Arm um meine Schulter. Die linke Hand lag locker geschlossen um eine großkalibrige Pistole in seinem Schoß, ich hatte gar nicht gesehen, wo die hergekommen war. Der Mann roch nach Schweiß und Zwiebeln, und als ich mich unwillkürlich rasch zu ihm umsah, versuchte er mich zu küssen. Mir war zum Kotzen. Ab da nannte ich das Schwein B. A. war der Kommandant. C. lenkte den Wagen. D. saß auf der hinteren Sitzbank und speichelte den finalen Genickschuß herbei. Ich hatte einen Plan.
     
    Der nichts taugte. Der Plan bestand darin, mich während der Fahrt in einen von ihnen zu verwandeln, mich einem von ihnen so anzugleichen, daß ich das Überraschungsmoment für die Flucht benutzen konnte. Ich versuchte, den Kommandanten zu emulieren, dazu mußte ich ihn so anstarren, daß er sich während der Fahrt zu mir herumdrehte, aber ich konnte meine Gedanken nicht ordnen, und lächelte ihn nur zerstreut an. Er lächelte wie ein Hai zurück. Ich versuchte es mit den anderen dreien, aber selbst als ich alle Kräfte und alle Konzentration aufbot, geschah nichts, meine Zellen reagierten nicht auf meine Befehle. Normalerweise hätten sie das tun müssen, normalerweise hätte ich eine Notemulation in weniger als einer Minute zustande bringen müssen, Stimmwiedergabe und jeden einzelnen Pickel im Gesicht inklusive; zwar hätte ich mich vor Müdigkeit noch zwei Tage später nicht bewegen können, aber diesen Preis wäre mir eine Flucht wert gewesen. Nur leider geschah nichts.

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