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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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wartete schon auf einem Hocker an der Hotelbar, und er glich der Identität, unter der ich selbst hier im Hotel angekommen war, auf die Hautpore. Als ich die gläserne Schwingtür zu der Abscheulichkeit in Edelholz und Messing aufschob, die hier die Hotelbar darstellte, stand der Gemahl auf und setzte sich wortlos an einen der kleinen Tische. Die Tische waren mit echten Rosen geschmückt, die der protzigen Vulgarität des Ambientes den I-Punkt aufsetzten. Der Barkeeper, angetan mit einer Seidenweste und einer lächerlichen Fliege, warf uns einen Seitenblick zu. Ich war nicht gut gelaunt. Wenn das ein Scherz von den Helfern sein sollte, dann war er außergewöhnlich schlecht. Auch mein Mann wirkte unglücklich.
    »Wie geht es dir?« fragte er leise.
    »Beschissen«, sagte ich knapp.
    »Mir auch«, sagte er. »Sie dachten, ich kann dir helfen, weil ich gerade im gleichen Sektor bin. Ich hielt es für eine Schwachsinnsidee, aber sie ließen sich nicht davon abbringen. Voilà, da wären wir.«
    Erst in dem Moment wurde mir völlig klar, daß ich einem anderen Nozizeptor gegenübersaß, einem von meiner Sorte, einem Genossen. Ich atmete tief durch.
    »Ich schätze, das wird wenig nützen, aber sie sagen, ich soll dich ein wenig ablenken. Heute nacht wirst du wieder umgeschmolzen, aber bis dahin bleibst du Karin. Wir dürfen alles, außer Sex.«
    Ich lachte ihm verzweifelt ins Gesicht. Das war ungefähr das letzte, worauf ich jetzt Lust hatte.
    »Und warum dürfen wir das nicht?« fragte ich ein wenig schrill, während ich eine Zigarette aus seiner Packung zog.
    »Beruhig dich«, sagte er leise. »Weißt du doch«, sagte er. »Erstens bist du noch voll von Echos. Dieser Kuhlmann tobt noch in dir herum. Dadurch könnte mein letztes Haus kontaminiert werden, und das wollen sie nicht. Zweitens bist du jetzt wie ein angeknackstes Stück Holz, und wenn du brichst, was wird aus deinen letzten drei Aufträgen? Drittens geht es darum gar nicht. Es geht darum, daß du dich erholst.«
    Ich sah ihn an. Seine Haare, der gepflegte Vollbart, sein bordeauxrotes Brillengestell, sein sportlich-konservativer Anzug, cremefarbener Pullover mit V-Ausschnitt, Krawatte, Hemd usw. Er sah nett aus, wenn auch ein wenig steif. Er konnte ja nichts dafür, aber ich fragte mich, wie weit die Helfer ihre Unmenschlichkeit eigentlich treiben konnten. Ich rauchte in kompakter Verzweiflung.
    »Hast du dich eigentlich je gefragt, wer sie sind?«
    Er lachte trocken und ansatzlos.
    »Machst du Witze? Ich bin jetzt bald fertig, erledigt, dann kommt das Fieber, und dann? Ich frage mich jeden Tag mindestens fünfmal, wer diese Leute sind. Wie spähen sie die Ziele aus? Wie setzen sie uns auf sie an? Woher kommen die Stimmen? Du hättest das alles doch genauso wenig geglaubt wie ich, wenn es dir vorher einer erzählt hätte. Ich bin heute morgen aufgewacht mit dieser Identität hier und habe mir gesagt: Das kann nicht wahr sein. Was ja meistens die Reaktion auf etwas ist, das wir lange erwartet haben. Ein Mann! Ach!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lehnte sich zurück. Er war ein wenig laut geworden, und ich sah mich nach dem Barkeeper um. Scheinbar nahm er keine Notiz. Ein anderes Pärchen betrat die Bar, die beiden waren von Kopf bis Fuß verliebt.
    »Weißt du, das bringt nichts, aber ich soll dich fragen, ob du dich heute abend amüsieren willst. Kino, Restaurant, irgend etwas.«
    Ich seufzte.
    »Es bringt wirklich nichts. Ich würde lieber mit dir ein wenig reden und dann ein Jahr lang schlafen.«
    Also unterhielten wir uns eine Weile über unseren Beruf. Was wir vorher gewesen waren, wie unsere Augen größer wurden, warum die Müdigkeit zunahm. Es gab gar nicht so viel zu sagen. Für einen wirklichen Austausch war die ökologische Nische, in der wir beide uns bewegten, zu schmal, im Grunde wußte der eine alles, bevor der andere den Mund aufmachte. Die Müdigkeit meines Mannes war schon so angewachsen, daß er Aufputschmittel nehmen mußte, und ich wunderte mich nur noch, daß die Helfer uns auch damit allein ließen. Dann versiegte unser Gespräch. Wir standen auf und verließen die Bar. Als wir an dem Barkeeper vorbeizogen, lächelte er uns verständnisinnig und ein wenig melancholisch zu. Er hielt uns offenbar für scheidungsreif. Am Haupteingang des Hotels fragte ich meinen Mann, ob ich wenigstens seinen wirklichen Namen wissen dürfe. Er lächelte nur, und wünschte mir viel Glück. Ich mußte an ihn denken, als ich am nächsten Morgen

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