Das Jahr der Maus
Eine Magnetbahn rauschte mit 200 km/h durch den Bahnhof. Ich erinnerte mich, wie sich zu Beginn des Magnetbahnbooms die Unfälle gehäuft hatten, bei denen die Passagiere vom Fahrtwind von der Bahnsteigkante gepflückt worden waren. Platform-Surfing war daraufhin ein neuer Sport unter den Jugendlichen geworden, sie waren mit ihren Inlineskates blitzschnell zur Bahnsteigkante vorgerollt, und hatten sich vom Fahrtwindsog einer durchzischenden Magnetbahn auf fast 100 km/h beschleunigen lassen, dagegen war der Grenzschutz meist machtlos, vor allem, weil man keine Beamten auf Inlineskates stellen wollte. ›Skate or die‹ wortwörtlich. Als sich die Verspätungen gehäuft hatten, die durch Skatergeschnetzeltes verursacht worden waren, hatte man die Sicherheitswände eingeführt, graue, aneinandergeschweißte Kunststoffplatten, die nur an einigen Punkten von magnetkartengesteuerten Toren durchbrochen waren. Ich saß auf einer tief eingebuchteten, pennersicheren Wartebank und las mir das kleine Gedicht durch, das auf dem bombensicheren Mülleimer vandalismus- und wetterbeständig verkündete: Verunreinigungen der Gleisanlagen und aller Bahnhofseinrichtungen einschließlich des Bahnhofsvorplatzes sind zu unterlassen und können bei Zuwiderhandlung mit empfindlichen Geld- oder Gefängnisstrafen geahndet werden. Warnung: Die Entsorgung von Hausmüll in diesem Abfalleimer ist untersagt und wird bei Zuwiderhandlung nach den geltenden Gesetzen bis zur möglichen Höchststrafe verfolgt. Dann sah ich auf die graue Wand, die den Mißbrauch der Gleisanlagen durch Platform-Surfing verhinderte. Ich hatte mich noch nie gefragt, ob die Zutrittstore auch den umgekehrten Weg erlaubten, den von den Gleisen auf den Bahnsteig; ich nahm aber an, daß das zu Reinigungs-, Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten für autorisiertes Personal der DMB AG unbedingt notwendig war. Deswegen wunderte ich mich nicht allzusehr darüber, daß sich jetzt eines der Tore von der falschen Seite öffnete. Der da heraustrat, hatte allerdings keine Arbeitsmontur an, sondern einen zerschlissenen Anzug, einen schmuddeligen Schal, und Schuhe, die ihre Lebensdauer lange überschritten hatten. Außerdem trug er eine Art Sonnenbrille und in der Hand einen weißen Stock. Weil ich Probleme für den Mann befürchtete, sah ich mich nach einer Polizeistreife um, aber da war niemand. Der Blinde sah mit seinem weißen Stock und der Sonnenbrille geradezu grotesk altmodisch aus, Blindheiten, die sich nicht medizinisch kurieren ließen, waren selten geworden. Wenn der Mann blind war, dann bewegte er sich mit einer erstaunlichen Zielgenauigkeit auf mich zu. Er setzte sich neben mich. Ich roch alten Schweiß, alten Wein, alten Tabak, Alter. Wenigstens seine Sonnenbrille war permanent in seine Augenhöhlen eingepflanzt, aber die Nähte schienen nicht recht verheilt, es gab da einen häßlichen schuppigen Ausschlag, wo die Haut in das Formplex-Glas überging. »Scheiße, ne?« sagte der Mann, und weil ich nicht wußte, was er meinte, antwortete ich im selben Ton: »Kannste laut sagen.« Aus irgendeinem Grunde standen mir die Haare zu Berge. Ich blieb so gelassen wie möglich. »Scheiße«, sagte der Mann noch einmal nachdenklich und gewichtig. »Bisse zufrieden?«
»Geht so«, antwortete ich, und ich fragte mich, wer hier eigentlich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. »Na dann geht’s ja.« Ich versuchte auf dieselbe gravitätische Art zu nicken wie er. »Meinste, wir sind zu streng mit dir?« Mir wurde schwindelig. »Nein«, antwortete ich mit einem trockenen Hals. »Na dann«, sagte der Mann, stand auf und ging ohne weiteres auf die graue Wand zu, die ihn verschluckte, als sei sie seine Haustür. Ich saß wie festgenagelt. Ich hatte mit einem der Helfer gesprochen.
Mein Bauch war geschwollen, aber mein Anus und meine Vulva fühlten sich an wie zugelötet. Trotzdem lief etwas aus mir heraus, warm, suppig, und ich hatte nur den einen Wunsch: mich davon zu reinigen. Über meinem Kopf schwebte immer noch der Apparat, den Kuhlmann benutzt hatte, um mich zu hypnotisieren. Ich hatte mich beim ersten Besuch schon über das Gestell gewundert, das entfernte Ähnlichkeit mit einer OP-Lampe hatte, jetzt kannte ich seinen Zweck. Kuhlmann hatte das Scheißding auf mich heruntergelassen wie eine überdimensionale Frisierhaube, dann hatte er ein wenig Hokuspokus mit seiner samtenen Stimme getrieben, und als ich in seiner Gewalt war, hatte er mich gefickt. Zuerst von vorne. Als er damit
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