Das Jahr der Maus
vor. Tryantafelidis tat zuerst so, als bemerke er den anderen gar nicht, aber als dieser sich noch weiter zu uns herunterbeugte, schoß er über die Schulter einen einzigen kurzen Satz auf den Stehenden ab, der daraufhin verstummte, und vor Wut kochend auf dem Absatz umdrehte.
»Diese Bauern«, sagte Tryantafelidis. »Jetzt sitzen sie in der Regierung, und denken, sie können sich alles erlauben. Wo waren wir stehengeblieben? Ah ja, Wagner. Wagner hat einmal …«
»Ich mache mir nichts aus Musik«, sagte ich kurz angebunden, mehr schon um seine Reaktion darauf zu testen, als um ihn wirklich zu verscheuchen. Mir war klar, daß er nicht gehen würde, bevor er sein Anliegen vorgebracht hatte, und ich war neugierig geworden.
»So, ach, na dann. Sicher.«
Er lehnte sich ein wenig zurück. Er angelte eine Zigarettenpackung aus seiner Sackotasche, und zündete sie sich an. An seiner rechten Hand fehlten zwei Finger. Er rauchte die Zigarette zur Hälfte, und machte nicht die geringsten Anstalten, zu gehen. Dann drückte er sie in dem Aschenbecher auf dem rot-weiß gewürfelten Tischtuch aus, rückte seine Brille zurecht und erklärte:
»Hören Sie, es ist mir egal, wie Sie dazu denken. Meine Meinung ist die folgende. Diese stinkende Revolution kann mir gestohlen bleiben. Ich kann das hier laut und deutlich in Ihrer Sprache sagen, weil diese Trottel sie nicht verstehen. Als Ihre Truppen hier waren, ging es Griechenland gut. Was man sich von diesen Massakern erzählt, ist übertrieben oder erlogen, die meisten Opfer waren Banditen und Strauchdiebe, und nur die Türken haben sie unmenschlich behandelt. Ich habe in Deutschland studiert, weil mein Vater ein guter Mann war. Mein Vater kontrollierte vor dem Krieg die Fischerei hier in Loutro und der Umgebung, aber als diese Gleichmacher in Athen an die Macht kamen, haben sie uns enteignet. Andere sind gegangen. Aber ich nicht. Es gibt noch einige hier, die so denken wie ich. Wir haben das deutsche Denkmal gerettet. Zwar mußten wir die Ehrenplakette mit dem Namen der Einheit abnehmen, die hier stationiert war, aber immerhin. Die Trottel in Athen konnten uns nicht ausrotten, sonst wäre ihre schöne Revolution im ersten Jahr schon wieder abgesoffen wie ein lecker Dampfer. Sie brauchten uns. Wir setzen uns für die Wahrheit ein. Und wissen Sie warum? Weil in Deutschland der letzte Rest des alten Griechenland weiterlebt. Unsere Kultur ist von den Türken so geschändet worden, daß hier davon nichts übriggeblieben ist. In Deutschland hat man ein Ohr dafür. Hölderlin! Ha, sagen Sie, wie steht es um Hölderlin in Deutschland?«
»Er wird gelesen«, sagte ich knapp.
»Gut. Gut so. Als die Deutschen kamen, habe ich den Leuten gepredigt: Die Deutschen haben Kultur. Sie sind eine Kulturnation. Habt keine Angst, es wird nichts passieren. Die Deutschen sind jetzt aus taktischen Gründen mit den Türken verbündet, um das kommunistische Ungeziefer auszurotten, aber nach dem Krieg, ihr werdet sehen! Es war alles umsonst. Sie sind diesen Bauerntrotteln hinterhergerannt. Widerstand nannte sich das.«
Er hatte sich mittlerweile eine neue Zigarette angezündet und wedelte damit in der Luft herum. Je länger er sprach, desto stärker kam sein griechischer Akzent durch.
»Widerstand, daß ich nicht lache! Banditen! Unsere Kutter haben sie uns angezündet, weil wir regierungstreu waren, weil wir für die Deutschen waren! Aber am nächsten Tag in eine unserer Tavernen kommen, und sich die Bäuche vollschlagen! Von gestohlenem Geld! Diebe und Banditen!«
Er angelte sein Portemonnaie aus der Tasche, klappte es auf, wobei ein wenig Zigarettenasche hineinfiel, und zog ein Bild heraus. Soweit ich das noch erkennen konnte, glich der Mann darauf Tryantafelidis auf entfernte Weise. Er schnaubte entrüstet.
»Wie gesagt, es ist mir egal, wie Sie darüber denken. Diese Geiselerschießungen, daß man angeblich Experimente mit Gefangenen vorgenommen hat und all das, das sind alles Propagandalügen. Ich glaube nicht daran.«
Er zeigte auf das Paßbild, das, von der alten Brieftasche gebogen, wie ein abgefallener Schmetterlingsflügel oder ein großes Blütenblatt neben dem Aschenbecher auf der Tischdecke lag, bestäubt von einigen Flocken Zigarettenasche.
»Das da ist Matthäus, mein Bruder. Er war auch im Widerstand. Eure Leute haben ihn gefangen. Er saß eine Zeit lang auf einer Strafinsel, wir haben noch zwei, drei Briefe von ihm bekommen, und dann ist er verschwunden. Er war schon immer das
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