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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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mein bärtiges Gesicht im Spiegel betrachtete.
     
    Vier Häuser abgearbeitet und geschlossen. An der Straße meines Rückgrats gingen die Lichter aus, wie die bunten Glühbirnen bei einem Gartenfest. Es wurde dort einsamer, stillere Stimmen. Nach der Begegnung mit dem anderen Nozizeptoren bekam ich Angst vor dem Fieber, und ich wußte genau, daß es da keine Angst zu haben galt. Jetzt bin ich im Fieber, und es erscheint mir im Vergleich zu meiner dauernden Angst vorher angenehm. Ah, die Freiheit der Desperados! Wird verachtet von den Sicherheitsmenschen! Ist anders als die Desperados denken! Hat eigentlich keine Bedeutung. Nach dem vierten Haus begann ich so müde zu werden, daß ich mir eine Pause wünschte. Ich wandte mich an die Stimmen, aber sie antworteten auf meine Bitten nicht. Ich schrieb meinen Wunsch nach einem Urlaub auf kleine Zettel, die ich in den Waschbecken von Provinzhotelzimmern verbrannte, oder in die selten gewordenen Briefkästen warf, ich ging sogar in christliche Kirchen, aber bis zum Beten und Kerzenanzünden brachte ich es dann doch nicht. Ein Urlaub! Vier Wochen Sonne! Ich wollte natürlich mehr als nur Urlaub. Ich wollte mehr Leben. Einmal erwischte ich mich beim Ausfüllen eines Lottoscheins, man konnte bei dieser Ausspielung eine Reise in die Karibik gewinnen. Es wurde schwierig, als ich eine Adresse angeben sollte. Mit den Schnippsein fütterte ich dann den lokalen Fluß, und dachte an einen kühlen Sprung. Auch das hatte ich mit dem anderen Nozizeptoren besprochen, Selbstmord kam für uns nicht in Frage. Jeder Arbeitnehmer darf Urlaub machen, dachte ich kindisch. Ich habe von euch Arbeit genommen, dann seid ihr meine Urlaubsgeber! Als mir einer der vielen Hotelportiers eines Tages einen Umschlag in die Hand drückte, in dem sich ein Flugticket nach Griechenland befand, konnte ich das nicht mehr ernst nehmen.
     
    Griechenland war kein Urlaubsland für Deutsche, selbst wenn man davon absah, daß die Touristik allgemein nachgelassen hatte. Noch fünfzehn Jahre nach dem Krieg wußten die Deutschen, daß sie dort nicht hingehörten. Es war nicht unmöglich; wer Geld genug hatte für eine Fahrt quer durch die Splitterstaaten des ehemaligen Jugoslawien, der konnte fahren; wer noch mehr Geld hatte, konnte fliegen, die Flüge waren selten, aber es gab sie. Hie und da versuchte ein Touristikunternehmen das Griechenlandgeschäft von Deutschland aus wieder zu beleben, durchaus mit der Unterstützung der nationalrevolutionären Regierung in Athen, die dringend Devisen brauchte. Der Euro wurde dort zu anderen als zu offiziellen Kursen gehandelt. Aber die deutschen Kunden blieben aus. Amerikaner kamen, Holländer kamen, Franzosen kamen, Deutsche kamen keine. In seltsamer Übereinstimmung hatte das deutsche Urlaubsvolk beschlossen, sich auf keinen Fall daran erinnern zu lassen, wie die königlichen Truppen im zweiten Balkankrieg auf Kreta gehaust hatten, wieder einmal. Kreta war der Ausgangspunkt des nationalrevolutionären Aufstands gewesen, der Griechenland schließlich aus der europäischen Union herausgebrochen, Zypern der Türkei vermacht, und Serbien-Montenegro unverhofft zu einer Pufferzone zwischen dem deutsch gedeichselten Europa und dem kubanisierten Griechenland einerseits und dem islamisierten Faschismus in der Türkei andererseits gemacht hatte. Griechenland war eine Insel mit Hunderten von Grenzkilometern zu Lande. Die Sicherung der Grenzanlange, die denen zwischen den beiden deutschen Ländern im letzten Jahrhundert sehr ähnlich sah, verschlang ein Viertel des Nationaleinkommens, der Tourismus wurde aber in letzter Zeit von der revolutionären Oligarchie als ein Mittel im Kampf um die Errungenschaften des panhellenistischen Sozialismus gesehen, also förderte man ihn nach Kräften. Es hatte alles gegeben, inklusive amerikanischer Militärberater, Giftgaseinsätze, Massaker an der Zivilbevölkerung, verbrannte Erde, alles. Die Türken waren auf Zypern furchtbar gewesen, die Deutschen auf Kreta, in ganz Europa hielt man bei inoffiziellen Anlässen eine Million tote Griechen für wahrscheinlich, in Deutschland glaubte man inoffiziell wie auch im Schulbuch eher an zweihunderttausend höchstens. Als die Kosten zu hoch geworden waren, hatte man sich darauf geeinigt, daß die sechste Flotte und die Schiffe seiner Majestät nicht von griechischen Kanonenbooten geärgert werden sollten, daß die Dardanellen frei blieben, daß Griechenlands Luftraum engmaschig umflogen werden durfte, und daß

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