Das Jahr der Maus
schwarze Schaf der Familie. Sozialismus und anderer Unsinn. Freiheit. Was denn für eine Freiheit! Sehen Sie, was diese Trottel mit ihrer Freiheit machen? Nichts! Nichts!« Er rauchte, um sich ein wenig zu beruhigen. »Bitte nehmen Sie das Bild mit nach Deutschland. Ich weiß, daß es nichts nützt. Aber man darf nie aufgeben. Nehmen Sie das Bild mit?«
Er sah mich nicht an. Ich hatte nicht die geringste Lust, ihm zu helfen. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: Nimm das Bild. Ich streckte die Hand danach aus und sagte:
»Ich werde sehen, was sich machen läßt.«
»Wirklich?« fragte er, leicht verblüfft.
»Ja. Machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie wissen, daß alle Gefangenen ausgetauscht wurden, damals in Belgrad. Es gibt keine verschollenen griechischen Kommunisten in Deutschland. Allein die Vorstellung ist schon absurd.«
Aber all das wollte der Mann schon nicht mehr hören. Er hatte mir bereits seine Adresse aufgeschrieben, in einer gestochenen lateinischen Schrift.
»Danke«, sagte er, stand auf und streckte mir zum Abschied die Hand hin. »Das Essen ist schon bezahlt.«
Er ging schnell weg. Trotz der emotionalen Reden, die er gehalten hatte, schaute ihm niemand nach. Ich bezahlte das Essen noch einmal, der Wirt nahm das Geld ohne Zögern.
Zurück in Deutschland, sollte ich ein Kind töten und weigerte mich. Der Junge hieß Jan und lebte in der geschlossenen Anstalt einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Westfalen, er war elf Jahre alt und hatte eines Tages seine kleine Schwester (4) mit dem Jagdmesser seines Vaters aufgeschnitten, ohne jeden ersichtlichen Grund. Als die Eltern nach Hause gekommen waren, hatte er vor dem Fernseher gesessen, die Leiche der kleinen Schwester in sitzender Position neben sich. Er hatte sich zu dem Vorfall dahingehend geäußert, daß ein Fremder in die Wohnung gekommen sei und seine Schwester ermordet habe, danach sei der Fremde wieder verschwunden. Als er gefragt wurde, warum dann von dem Fremden weder Fingerabdrücke noch sonstige Spuren in der Wohnung zu finden gewesen waren, hatte er nur mit den Schultern gezuckt. All das wußte ich schon von den Helfern, und ich hätte mich beinahe im Bewerbungsgespräch verraten. Die Klinik suchte ein neues Mitglied für das Behandlungsteam der Fünfergruppe, zu der Jan gehörte. Renate war die therapeutische Leiterin der Gruppe, sie war auch die Dienstälteste, da sie immerhin schon zwei Jahre in ihrer Stelle ausgeharrt hatte, was die durchschnittliche Verweildauer der Teammitglieder um einhundert Prozent übertraf. Sie fragte mich beim Einstellungsgespräch, warum ich mir eine Gruppe wie diese ausgesucht habe. »Weil ich Erfahrungen sammeln will«, antwortete ich schüchtern und vage. Renate sah mich ein wenig skeptisch an und antwortete: »Die kannst du hier kriegen.« Es kam einzig und allein auf dieses ›du‹ im Satz an, denn es sagte, daß meine Zeugnisse und meine Legende überzeugend genug gewesen waren. Ich hatte auch Fähigkeiten, die mich meinen Job zur Zufriedenheit simulieren ließen, zwar hatten die Helfer wenig an meinem Äußeren verändert, aber ich ›entdeckte‹ im Laufe der ersten Wochen Knowhow über Gesprächs-, Spiel-, Arbeits-, und Gestalttherapie in meinem Gedächtnis, das vorher nicht dagewesen zu sein schien. Es kam dahin, daß ich mit Renate eines Abends ausging, was die absolute Ausnahme darstellte, denn am Feierabend wollten die Teammitglieder ansonsten nichts voneinander hören und sehen. Sie legte in der ersten Viertelstunde die Karten auf den Tisch. Sie sagte, sie habe mich beobachtet, ich sei ein guter Therapeut. Nora, eine von Jans Kolleginnen, reagiere schon auf mich. Sie bot mir an, in einem halben Jahr ihre Stelle zu übernehmen, sie sei ausgebrannt. Ich sah in mein Glas und dachte: Wenn du wüßtest. »Ich werde es mir überlegen«, sagte ich. »Schließlich muß ich vorher noch Erfahrungen sammeln.« Wir lachten beide. Jan war im übrigen so unauffällig und durchschnittlich, wie es ein Elfjähriger sein konnte. Er war blond, hatte haselnußbraune Augen und interessierte sich für Fußball. Das einzige, was mir an ihm auffiel, waren helle, kreisrunde, kirschkerngroße Narben auf seinen Unterarmen; seine Eltern hatten dem Polizeipsychologen gegenüber angegeben, daß sich Jan diese Narben im Alter von sieben Jahren mit brennenden Zigaretten selbst beigebracht hatte, und die Helfer hatten das bestätigt. Seine Eltern besuchten ihn nie. Anscheinend hatte er das gute Klima zwischen mir und
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