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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Renate bemerkt und war deswegen eifersüchtig. Da es im Rahmen der Therapie mit diesen Kindern auch darum ging, brauchbare Familiensituationen nachzumodellieren, hielten wir das für eine gesunde Dynamik. Dann griff Jan Renate mit den bloßen Händen an, in der Teeküche der Station, und tötete sie beinahe. Ich war der Erste am Ort des Geschehens. Renate wand sich auf dem grünen Linoleum des Küchenbodens und gab seltsame röchelnde Geräusche von sich. Jan kniete auf einer der Küchenbänke aus unbehandeltem Fichtenholz und sah aus dem vergitterten Fenster. Ich riß die rote Plastikhaube vom Alarmknopf und hämmerte wie verrückt darauf ein. Während der ewigen Minute, die die Sanitäter zum Erscheinen brauchten, hielt ich hilflos Renates Hand. Die Sanitäter drängten mich weg und setzten sofort eine Trachiotomie, weil Jan ihren Kehlkopf eingedrückt hatte, und es waren später drei Notoperationen fällig, um ihren Atem und ihre Stimme zu retten. Das Bild: Die Sanitäter in Panik um Renate, Jan hingegen: kniend, ungerührt, einige Meter weiter auf seiner Fichtenbank. Als Jan bis unter die Bewußtseinsgrenze absediert war, als klar war, daß Renate es überleben würde, als die kommissarische Therapieleitung der Gruppe geregelt war, ging ich nach Hause. Einer der Ärzte klopfte mir ermutigend auf die Schulter, nachdem ich von Renates verkabeltem Bett aufgestanden war. Die Helfer befahlen mir, am andern Tag Jan zu töten.
     
    Er ist ein Kind.
    Er ist ein Quäler.
    Er ist erst elf. Er kann sich ändern.
    Müssen wir dir Details über den Mord an seiner Schwester erzählen, die du noch nicht kennst? Die Polizei hat seinen Eltern verheimlicht, daß Nina …
    Hört auf! Hört auf!
    Schau, wir möchten mit dir nicht diskutieren. Wir haben Jan ausgesucht, weil er ein Ziel ist. Er ist furchtbar. Er ist ein legitimes Ziel. Du hast deine Befehle.
    Ja, aber sie sind falsch. Falsche Befehle, ha ha, kommt euch das bekannt vor? Und, wo wir schon einmal dabei sind, wer seid ihr überhaupt? Die Maschinengewehre Gottes? Die unsichtbare Heilsarmee? Hallo, hallo!? Ist da wer?
    Soll das heißen, daß du dich weigerst?
    Aber natürlich. Und was wollt ihr jetzt tun? Mich zu einem Ziel erklären? Ihr wißt genau, daß ich das Recht habe, mich einmal zu weigern. Ich mache davon Gebrauch.
    Du weigerst dich also.
    Seid ihr taub? Ja. Ja. Ja.
    Wir haben verstanden.
    –
    Bestraft ihr mich?
    Nein. Wir denken nach.
    –
    Bin ich verrückt?
    Nein.
    Laßt ihr mich in Ruhe?
    Nein.
     
    Am nächsten Tag reichte ich meine fristlose Kündigung bei der Klinik ein. Ich tat das nicht, weil es dessen noch bedurft hätte, sondern weil die Helfer im allgemeinen auf bürgerliche und unspektakuläre Umgangsformen Wert legten. Und weil ich mich von den Kindern verabschieden wollte. Die Personalabteilung drohte mir mit rechtlichen Schritten, was mich nicht beeindruckte, denn diese Schritte würden ins Leere gehen. Daß sich Bezugspersonen von den Kindern verabschiedeten, gehörte so sehr zum Konzept, daß sie es mir nicht abschlugen. Obwohl das bei Jan nicht viel Sinn machte, denn er lag noch immer völlig betäubt in einem Intensivzimmer, das ich nicht betreten durfte. Ich sah durch die bruchsichere Scheibe. Sein Gesicht konnte ich in all dem Weiß nicht einmal klar ausmachen, aber es wurde von einer unsichtbaren Kamera eingefangen und auf einen Bildschirm in den Überwachungsraum übertragen. Er sah bleich und friedlich aus. Als ich dieses Gesicht sah, wußte ich, daß die Helfer recht gehabt hatten. Ich war ihnen dankbar, daß sie dort in dieser Schreckenskammer nicht versuchten, mich zu überrumpeln. Ich klopfte an die Scheibe des Bildschirms, und sagte ins Nichts: Auf Wiedersehen. Nora lachte über meinen Abschied. Die anderen drei zuckten nicht mit der Wimper. Fünfhundert Meter weiter, auf der chirurgischen Intensivstation der benachbarten HNO-Klinik, hinter einer ähnlichen Trennscheibe stehend, hätte ich Renate gerne geküßt, umarmt, ich hätte gerne meine Wange an ihre gelegt, aber die Ärzte ließen es nicht zu. Ihr Hals verschwand unter Schläuchen, und sie wurde zur Sicherheit immer noch künstlich beatmet. Ich ging, ohne wahrgenommen worden zu sein. Ich überlegte mir, ob ich nicht die Branche wechseln sollte. Sicherheitsglas, das war in Deutschland ein Wachstumsmarkt.
    Ich blieb noch lange genug in der Stadt, um in den Zeitungen die Nachricht von Jans Tod mitzuverfolgen. Er hatte es irgendwie geschafft, sich in der Kammer des Schreckens in

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