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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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nachts um drei anbrüllte, es solle mit dem Brüllen aufhören. Dann zog eine neue Nachbarin ein. Ich beobachtete von meinem Küchenfenster aus, wie sie und ihr Mann die Kisten von dem Automaten hoben, der sie von Braunschweig, Kiel oder München hierhergefahren hatte: eine graue Schlange mit vier oder fünf Kettengliedern, die selbstgesteuert auf der Autobahn 200 Spitze machte und sich auch bei massiven Staus noch durchschlängeln konnte. Die Schlangen wurden deswegen von den Autofahrern gehaßt, und hatten meistens Beulen und Kratzer, aber sie waren robust, weil sie einmal für den Krieg entwickelt worden waren. Diese hier war noch neu, unzerkratzt prangte das Logo der Spedition auf der aerodynamischen Haube des ersten Kettenglieds, und leicht, flüssig, elegant kurvte das Konstrukt aus dem Parkplatz, als die letzte Kiste heruntergehoben war. Monika, meine neue Nachbarin, machte mir Eindruck: keinen guten. Sie ging unter einem Leid, das mich professionell interessierte, ich konnte nicht anders. Als wir zum ersten Mal in der Küche der neu bezogenen Wohnung saßen, war das eine merkwürdige Versammlung. Nachdem wir eine Weile stumm um eine Kanne Tee gesessen waren, sagte Monika plötzlich zu mir:
    »Weißt du, ich bin nämlich verrückt.«
    »Monika, bitte …«, sagte ihr Freund gequält, aber das zeigte keine Wirkung. Sie stand auf, zog eine Schublade aus der Küchenanrichte und stellte die ganze Schublade auf den Tisch, beinahe wäre die Kanne umgekippt. Man konnte Dutzende von Tablettenschachteln sehen und eine Injektionspistole, deren Kolben mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt war.
    »Das muß ich alles nehmen, damit ich senkrecht bleibe«, sagte sie mit einem furchtbaren Glitzern in den Augen. »Und die Pistole ist dafür, wenn es ganz schlimm kommt.«
    Ich konnte mit der Situation nur wenig anfangen und suchte Hilfe bei ihrem Mann; der lächelte nur ein fades und trauriges Lächeln, als habe er dieses Spiel schon zu oft gespielt. Dann wiederum sah ich in Monikas rundes Gesicht, und erkannte hinter dem herausfordernden Glitzern einen jahrzehntealten Schrei. Ein Kummer so stark, ich wandte die Augen ab.
    »Glaubst du mir nicht?« fragte sie, und ich antwortete: »Was soll ich dir glauben?«
    »Daß ich verrückt bin.«
    »Ich glaube es dir«, und meine Kehle war trocken, weil ganz hinten noch das therapeutische Deutsch mitschwang, das ich bei meinem Einsatz in der Jugendpsychiatrie gebraucht hatte.
    »Monika«, sagte ihr Mann, »Thomas ist sicher nicht hergekommen, um deine Krankengeschichte anzuhören. Er …«
    Ich hieß in diesem Wohnblock Thomas.
    »Was weißt du von Thomas«, fauchte Monika erschreckend giftig. »Er hat in einer Sekunde mehr Gedanken als du im ganzen Leben. Du Spatzenhirn.«
    Das letzte hysterisch geschrien. Monika hatte mich vergangene Nacht aufgeweckt, nicht die brüllende Frau von oben. Monikas Mann kannte sich aus mit diesen Explosionen. Er stand lächelnd auf und verließ den Raum.
    »Du feige Sau«, sagte Monika. Sie ließ die Schublade langsam in die Anrichte zurückgleiten.
    »Du bist anders«, sagte sie zu mir. »Du bist etwas Besonderes, wie ich.«
    Das Wissen aus der Jugendpsychiatrie war noch da. Die Verblüffung, daß ein Mensch meine verwundbarste Stelle so leicht aufgreifen konnte, auch. Ich schwieg, und versuchte diese Art von Lob an mir abgleiten zu lassen. Monika setzte sich neben mich.
    Sie sagte, ruhig und gelassen: »Mein Vater war im Krieg ein Held. Als er aus dem Krieg kam, machte er sich eine kleine Tochter. Er hat mich in den Schrank gesteckt. Der Schrank ist das Wichtigste. Auf den Schrank kommt es an. Das mußt du dir merken.« Ich hätte sie gerne getröstet. Monika war jenseits von Trost.
    »Es tut mir leid«, sagte ich und stand meinerseits auf. Die Tür stand noch offen.
    »Ja«, sagte Monika, »das wird dir noch leid tun.«
    Und sie konnte ja kaum wissen, wie recht sie behalten würde. Oder vielleicht doch? Vielleicht war ihr im ersten Moment bewußt geworden, was und wer ich wirklich war. Vielleicht hat Monika mich gesehen. In der Zeit, in der wir uns kannten, konnte ich das nicht herausfinden, aber ein bestimmter Verdacht löste sich nie. Die junge Frau von oben schrie regelmäßig ihr Kind an, Monika manchmal ihren Mann. Das Elend pflanzte sich per Schallwellen durch den Beton fort. Marc T. bekämpfte Naikioku, Naikioku schlug zurück.
    Monika und Lars lief ich bei meinen Gängen täglich über den Weg. Lars grüßte freundlich, fast verschworen,

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