Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
meinem Schreibtisch, die äußere Verpackung in Fetzen. Ich warf es angewidert weg.
     
    Expo 2000 hörte sich albern an, und so war es dann auch. Ich hatte den Vergnügungspark eigentlich nur aufgesucht, um Zeit totzuschlagen, das soll man nicht tun, sie schlägt sonst zurück. In der Expo 2000 auf doppelte Weise, erstens war sie extrem langweilig, zweitens war dort die Zukunft noch schneller gealtert als überall sonst. All der interaktive, dreidimensionale Flimmerkram, die HMDs, die Net-PCs, der ganze Schießbudenrummel, der um das Internet veranstaltet worden war, die neonfarbene Leere, das verchromte Nichts, das schon bei der Markteinführung veraltet gewesen war, all das strömte exakt die Atmosphäre von Leierkästen, Spieluhren, und mechanischen Automaten vergangener Jahrhunderte aus, mit dem Unterschied, daß es alt genug war, um Staub, aber noch nicht alt genug, um Gefühle anzuziehen. CD-ROM, Virtual Reality, Artificial Intelligence, Multimedia, Touchscreens, die Schlagworte einer abgelegten Epoche. Einige der Stellplätze mit den unfaßbaren Neuigkeiten von vorgestern waren leer, und dort stand auf angegrauten Stücken Papier zu lesen: Exponat zur Revision in der Werkstatt/im Labor. Wir bitten um ihr Verständnis. Es wurde das pure Glück angekündigt: Wir blasen die Encyclopedia Britannica in einer millionstel Sekunde ins All. Der Gesamtumfang der auf dem Hypernet getätigten Geschäfte wird nächstes Jahr den der konventionellen Art einstellen. Inter-, Super-, Hyper-, und dann war den Marketingstrategen nichts mehr eingefallen. Es war alles wahr geworden, jedenfalls für den Norden der Welt. Der Norden der Welt stand sich in der Höhle Ali Babas die Füße platt und gähnte. Ja was denn. Das Hypernet war real, die Encyclopedia Britannica flog nur so durch die Luft, fünfhundert Fernsehkanäle in zwei und drei Dimensionen, alles, alles, alles. Ich ging an die frische Luft. Es war Winter. Der klare Anstieg eines schneebedeckten Hügels tat mir gut, auch wenn der Schnee ein wenig dunkel war, und auf dem Hügel eine öde mattsilberne Kugel thronte. Wahrscheinlich eins der geschlossenen 3D-Kinos, für die nie etwas anderes produziert worden war als fünf Minuten lange Trailer auf der Achterbahn. Ich lief zum Spaß den Hügel hinauf, und tat so, als habe ich hier ein Recht auf Sensationen. Wegen Reinigungsarbeiten geschlossen. Na dann. Infotainment. Edutainment. No thing. Der kalte Wind am Anfang Dezember machte mein Gesicht blitzblank und meine Knöchel weiß. Ich hatte meine Handschuhe im Hotel vergessen, und meinte nach einer halben Stunde in dieser Rentnerausstellung, das habe etwas zu bedeuten. Das war vielleicht genauso ein Irrtum wie die Überzeugung, ich sei dort ganz allein. Als ich von dem achten Weltwunder, das derzeit leider wegen Reinigungsarbeiten geschlossen war, wieder auf einen der ›Erlebnispfade‹ zurückkehrte, kam mir ein Kind entgegen, dunkelblauer Dufflecoat, Bommelmütze, Handschuhe. Der Junge, vielleicht fünf Jahre alt, fragte mich:
    »Haben Sie eine Frau ohne einen Jungen gesehen, der so aussieht wie ich?«
    Ich war so verblüfft über sein Auftauchen, daß ich instinktiv nur abwehrte.
    »Nein!« sagte ich unnatürlich laut.
    »Dankeschön«, sagte der Junge artig und ging weiter, seine Mutter suchen. Der Park war aber doch rasend leer, ich konnte mir nicht vorstellen, wie die beiden sich überhaupt aus den Augen verloren haben konnten. Ich war bereit, an ein neues Komplott der Helfer zu glauben; langsam drehte ich durch in meinem Gewinde und konnte mich dabei knirschen hören. Was sollte das überhaupt heißen ›Haben Sie eine Frau ohne einen Jungen gesehen, der so aussieht wie ich‹? Plötzlich mußte ich lachen. Ich mußte in einem schlechten Zustand sein, daß es dazu nicht früher gekommen war. Eine ganze Weile ließ ich die logische Falle auf- und zuschnappen, die der Satz aufstellte, das machte mich unerwartet froh. Und nach dem Spaß, hinter der besonderen Stelle, die das Wort ›ohne‹ innerhalb des Satzes einnahm, hier im kalten Park der kalten kaputten Wunder wartete ein Moment der Gewißheit auf mich, der keine Beschreibung ertrug, aber nichts anderes suchte als Worte. Es war still. Ein kleiner Teich, alles in allem vielleicht hundert Kubikmeter Wasser, die auf einer unverrottbaren Plastikplane schwammen, setzte an seinen Rändern Eis an. Durch das Raschelpapier der verdorrt erfrorenen Schilfkolben war der grüne Kopf des Pumpensystems zu sehen, das den Teich im

Weitere Kostenlose Bücher