Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
Sommer am Umkippen hinderte. In dieser Stille, unter dem sich langsam verdichtenden Eis (Erinnerungen an meine kindliche Frage, wie überhaupt Seen und erst Flüsse zufrieren können), war die Gewißheit. Ich war hier. In Hannover. Im stillgelegten Erlebnispark der Zukunft von damals. Ich war nirgendwo sonst, sondern genau hier, im Blödsinn dieses Augenblicks, und es war richtig.
    »Hören Sie …«, sagte jemand in meinem Rücken, und ich drehte mich lächelnd um. Ein Wachmann stand da, dunkelgraue gefütterte Jacke, Barett, Handschuhe, sauber gebügelte Hose. Schwarze Herren-Halbschuhe, Größe 42. Das unvermeidliche Walkie-Talkie, dessen Stummelantenne von hier bis nach Timbuktu reichte, wenn es sein mußte. Überwachen und Strafen. Das Gesicht des Securitymenschen, unentschlossen: zwischen aggressivem Reflex, antrainierter Höflichkeit und instinktiver Furcht.
    »Sie können nicht hier sein.«
    »Ah ja?« antwortete ich, und in meinen Mundwinkeln saß immer noch ein muskuläres Lächeln.
    »Ja«, sagte er, jetzt bestimmter, denn seine verinnerlichten Trainingsroutinen sagten ihm jetzt, daß es sich bei mir um einen potentiellen Störer handelte. Ich sah das entsprechende Flußdiagramm vor mir aufzucken wie Wetterleuchten.
    »Dieser Teil der Anlage ist im Winter geschlossen.«
    Wäre ich schlechter angezogen gewesen, hätte er mich da schon ein Freundchen genannt, vorerst ließ er das aber noch bleiben.
    »Na dann«, sagte ich gedehnt, um das Spiel noch ein wenig weiter zu treiben, setzte mich aber doch langsam in Bewegung. Er ging zwei Schritt hinter mir, zurück zum Hauptpavillon A, er telefonierte dabei einmal kurz mit seinem Vorgesetzten. In der großen kalten Halle des Pavillons, in die sich jetzt doch einige Familien verirrt hatten, entließ er mich schlecht gelaunt aus seiner Gewalt. Ich hatte ihn um das Vergnügen gebracht, seine Einweghandschellen an mir auszuprobieren, und vielleicht auch seine chemische Keule und seine Taschenlampe aus Flugzeugaluminium. Ich verließ die Ausstellung sofort, es war Zeit.
     
    die eisenbahn beschreiben, nicht aus nostalgiegründen; sie verkaufen ja schon seit langem modellsätze mit den haifischförmigen magnetbahnen, nein, des treibsandgefühls wegen, das das andauernde reisen mit sich gebracht hat, der intensivierung der erinnerungen wegen. denn wie das kino und die schallplatte, alles erfindungen von vor zwei jahrhunderten, ist die eisenbahn, auch die magnetbahn, eine erinnerungsmaschine, man kann mit ihr in die zeit fahren, und die zeit summiert sich mit den inneren werten eines menschen, seinen hoffnungen, seinen ängsten, seiner schuld und all dem anderen, und schon scheinen die gesichter in der bahn auf, wie die von hinten erleuchteten bildschirme der kleinen tragbaren rechenmaschinen, auf denen die fahrenden geschäftsleute den weltumsatz ihres unternehmens bestimmen. ah ja, das gesicht eines menschen als summe seiner weltumsatzjahresberichte, so kann man das natürlich auch sehen, in der alleräußersten entfremdung des öffentlichen verkehrs, intim/transitorisch, unausgesprochen/deutlich. wenn man wie ich an der außenseite seiner synopsen lebt, sind die berichte aufgeblättert, und wie in einem archiv, das jedes einzelne schriftstück in aufgeblätterter form aufbewahrt, will ich dort in den eisenbahnen nicht mehr lesen. nicht mehr zu lesen, ist eine art der befreiung, seit lesen kein privileg mehr, sondern ein zwang ist; nur noch ewige sätze lesen die befreiung in die andere richtung, seit das lesen hauptsächlich piktographisch geworden ist, logo. logo war einmal eine computersprache, sie wurde von kindern verstanden, und seitdem ist unsere gesellschaft eine maschine, die von logos programmiert wird. die gesellschaft leistet sich die bahn wie der reiche mann ein schlechtes gewissen, dort sind die erinnerungen an alle untaten aufbewahrt, dort sollen sie auch bleiben. die bahn wird nicht nur lesbar im kursbuch, das es schon lange nicht mehr auf papier gibt. die bahn wird lesbar in den gesichtern der reisenden. einsteigen und mit den anderen kofferträgern kämpfen, den sogenannten mitmenschen, die man jederzeit über den haufen rennen könnte, solange der Fensterplatz in Fahrtrichtung nicht gefunden ist. dann allein sein, und sich dafür schämen. wenn doch nur einer käme, dem man ans knie stößt, das wäre dann auch immerhin schon eine art von kontakt. dann kommt die kleine dickmadam, setzt sich gegenüber, packt ihre stinkenden wurstbrote aus und ihre

Weitere Kostenlose Bücher