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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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hätte gar zu gerne gewußt, was sich dahinter befand. Es gab keine Fenster. Grau war die Lieblingsfarbe des Innenarchitekten, der diesen Raum gestaltet hatte, und das ganze Ambiente vermittelte den Eindruck einer extremen Konzentration auf ein Ziel, das nicht sichtbar war. Bis auf drei Stühle war der Tisch besetzt. Keine Frauen. Die anderen Mitglieder schienen entweder über mein Auftauchen informiert zu sein oder waren wenig neugierige Menschen, aber als ich den letzten freien Stuhl besetzen wollte, nachdem Rinnthal und Aicheler die ihren eingenommen hatten, erregte ich doch eine gewisse amüsierte Aufmerksamkeit. Der letzte freie Stuhl stand an der hinteren Stirnseite des Tischs, unter den seltsamen grauen Quadraten; ich ging darauf zu, entschlossen, meine Rolle als selbstbewußter Neuling zu entwickeln, wurde aber abgefangen, bevor ich mich hatte niederlassen können.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Rinnthal vom anderen Ende des Tisches her, mit der Nachsicht eines erfahrenen Lehrers. Genau über seinem Kopf das Sonnensymbol. »Sie sind neu hier, Sie können es nicht wissen. Bei den ersten drei Treffen, an denen Sie teilnehmen, müssen Sie leider stehen.«
    Allgemeines Geschmunzel. Ich wurde dazu angeregt, meine Demütigung mit Humor zu tragen, denn hier war jeder durch diese Prozedur gegangen. Mein Zögern legte Rinnthal anscheinend als Widerstand aus.
    »Es ist hier so Usus«, sagte er mit leisem Nachdruck, und das Geschmunzel gab sich. »Kommen Sie, bitte.«

    »Selbstverständlich«, sagte ich und schob den Stuhl wieder zurück, auf dem ich mich gerade hatte niederlassen wollen. Bei Rinnthal, am anderen Ende des Tisches angekommen, bemerkte ich rechts von ihm, im Abstand von vielleicht einem halben Meter zu seinen Stuhlbeinen, einen Kreis, der in den grauen Teppichboden geprägt war, vorhin hatte ich darauf nicht geachtet. Meine Schuhe paßten in etwa hinein. Man vertraute darauf, daß ich verstanden hatte; zwar sprach es niemand aus, aber mir war für den Rest des Abends kein Schritt über diesen Kreis hinaus erlaubt. Ein kleiner Mann mit einem Köfferchen in der Hand betrat den Raum. Zügig ging er zu dem Stuhl, der mir verwehrt worden war, und setzte sich wortlos hin. Er öffnete den Koffer, und entnahm ihm eine Schachtel; diese Schachtel wurde sofort von einem Mitglied an das andere weitergereicht, wobei jeder ein kleines Briefchen daraus hervorfischte, um es dann vor sich auf den Tisch zu legen. Die kleine Terrormaßnahme, der ich ausgesetzt war, zeigte erstaunlich schnell Wirkung. Ich erwartete schon voller Trotz, daß die Schachtel an mir vorübergehen würde. Anscheinend wollte ich bei den großen Buben gar zu gern mittun, aber dann war es Rinnthal selbst, der mir lächelnd die Schachtel anbot. Das Briefchen war in Wirklichkeit eine gelbliche Plastikhülle, die so gut wie nichts wog; es war aber etwas darin eingeschweißt. Als alle ihre Ware erhalten hatten und die Schachtel zu dem kleinen Mann am hinteren Ende des Tisches zurückgewandert war, senkte sich eine gespannte Stille über die Versammlung, und nach ein paar Minuten hätte man eine Stecknadel fallen gehört. Rinnthal öffnete sein Briefchen als erster; bevor ich erkennen konnte, was darin gewesen war, verschwand es in seinem Mund. Die anderen taten es ihm nach, und ich beeilte mich, hinterherzukommen. Die Tablette war rot und hatte eine eigentümliche Form, sie erinnerte ein wenig an ein überdimensionales rotes Blutkörperchen, und während sie meine Speiseröhre hinunterrutschte, schmeckte ich dem Fruchtaroma nach, das sie auf meiner Zunge hinterlassen hatte. Es geschah eine Weile gar nichts. Dann hob Rinnthal die rechte Hand und machte eine leicht wischende Bewegung. Aus den grauen Quadraten vom anderen Ende des Tisches kam etwas auf uns zu, bewegte sich gleichzeitig langsam und schnell durch die Luft wie eine Fata Morgana, die auf einer unsichtbaren Welle hergetragen wurde, und noch bevor mich dieses Ding mit der Wucht einer Dampframme traf, wußte ich, worum es sich eigentlich handelte: Das war Schall. Die grauen Quadrate dort hinten waren Lautsprecher, und ich konnte den Schall sehen, den sie ausstießen. Als die Welle mich traf, war es, als würde jede einzelne Zelle von mir angehoben, aus dem Verband mit ihren Nachbarzellen gelöst, leicht gelüftet und dann wieder an ihren Platz zurückgesetzt. Es ist Schall, hörte ich jemand in meinem Kopf sagen, die Droge wird durch Schall aktiviert. Dann plötzlich sah ich alles auf einmal.

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