Das Jahr der Maus
Anscheinend hatte jemand alle Phasen meines Lebens durchgesehen, Schauspieler engagiert, in ein Haus verfrachtet, das Haus quer durchgeschnitten und so zu einer Guckkastenbühne mit vielen Guckkästen gemacht, um sie mir jetzt zu zeigen. Unendlich viele Guckkästen. Ein unendlich großes Haus. Ich sah alle Aufführungen gleichzeitig, ich bekam Kopfweh. Nur noch ein paar Sekunden, sagte es. Wir schützen dich. Wie fein, dachte ich, und da war es wirklich vorbei. Für die anderen hier hatte der Spaß erst begonnen. Manche sprachen mit Wesen, die ich in dem Raum nicht sehen konnte. Aber ich konnte auch den Ton nicht hören, der vorhin durch meine Zellen gewaschen war, was wußte ich von den Dämonen der anderen. Es gab einen Mann, dem der Speichel vom Mund in den Bart troff, es sah aus, als habe er Sahne oder Rasierschaum um seinen Mund verschmiert. Seine Augen waren nach oben verdreht. Ein anderer Herr wiegte seinen Oberkörper in einer unhörbaren Melodie hin und her und summte dazu wie ein Transformator. Ein dritter führte seine Hand über die Fläche des Tischs, als bestünde sie aus geliebter Haut. Wenn ich die Auswirkungen dieser Droge nicht am eigenen Leib gespürt hätte, hätte ich all diese Leute nur für bescheuert gehalten, so eindeutig debil sah das aus, was sie da taten. Rinnthal ausgenommen, er war still. Er saß nur da, mit geschlossenen Augen, die Hände flach auf dem Tisch, und schien über etwas nachzudenken. Nachdem ich ihn eine Weile beobachtet hatte, öffnete er die Augen und sah zu mir auf. Sein Blick war still und sezierend, er sah durch mich hindurch wie durch ein Fliegendrahtgitter vor einem hellen Licht. Er nickte, so langsam, daß ich zwischendurch meinte, sein Kinn würde auf der Brust liegenbleiben. Mir schien, als dauere die Party schon ewig, aber das war wohl eine Nachwirkung der Droge, denn nachdem Rinnthal den Schall mit einer erneuten wischenden Bewegung wieder zum Verstummen gebracht hatte, konnte ich auf der Armbanduhr eines anderen Mitglieds erkennen, daß erst fünf Minuten vergangen waren. Beinahe sofort erwachte der Club aus dem kollektiven Rausch, und alles war wie vorher. Man lachte. Der Bärtige wischte sich den Mund ab. Einige öffneten die kleinen Mineralwasserflaschen, die vor ihnen auf dem Tisch standen. Anscheinend hatte der inoffizielle Teil des Abends begonnen. Man scherzte und beredete in kurzen Bemerkungen Dinge, von denen ich nichts verstand, Lokalpolitik, Geschäftliches. Einige der Mitglieder kamen während der Zeit, die ich in meinem Kreis stehen mußte, auf mich zu und gaben mir die Hand, sie lächelten dabei und schienen alle zu sagen: »Tapfer, mein Junge, tapfer.« Danach setzten sie sich wieder und nippten an ihrem Mineralwasser. Als ich mir eine halbe Stunde lang die Beine in den Boden gestanden hatte, entließ mich Rinnthal mit der Bemerkung:
»Willkommen im Club. Bis zum nächsten Mal.«
Ich hatte auf dem Nachhauseweg Schwierigkeiten beim Gehen.
Was ist das?
Sie haben ein neues Spielzeug.
Sie allein?
Ich stand am Fenster meines Hotelzimmers. Es war hell vom Licht einer Straßenlaterne, die die Stadtplaner genau hier hingesetzt hatten, um den Gästen auf diesem Stockwerk all die lästigen Gänge zum Lichtschalter und dem Hotel überlange Stromrechnungen zu ersparen. Schlaf undenkbar. Der Vorhangstoff war schon tagsüber ein Wunder an Häßlichkeit, im Alptraumlicht der Straßenlaterne sah er aus wie aus einer anderen Welt: ein meliertes Kotbraun, überzogen von schwarzen Spritzern, die aussahen, als habe sie der Maler beim Streichen der Decke hinterlassen. Das Fenster war sauber, von den Ecken abgesehen. Man konnte es nicht öffnen. Der Himmel hing voller Weihnachtsbeleuchtung. Ein maßgeschneiderter sechster November für mich und für Deutschland.
Bis jetzt noch, ja. Einer nimmt das Spielzeug mit und zeigt es den anderen Kindern. Bald.
Es wird ein erfolgreiches Spiel?
Es wird das Spiel des Jahres.
Ist es gefährlich?
»Liebe Hotelgäste. Bitte beachten Sie, daß um 21.30 Uhr unser Restaurant seine Pforten schließt, wenn Sie also richtig Hunger haben, sollten Sie sich beeilen. Für alle, die es bis dahin nicht mehr schaffen: Keine Sorge, wir lassen Sie bestimmt nicht verhungern! Leichte und wohlschmeckende Snacks erhalten Sie auch nach der Schließung des Restaurants in unserer Hausbar. Wir wünschen Ihnen weiterhin noch einen erholsamen und anregenden Abend.«
Ich war schon so weit gesunken, daß ich mir Gedanken über die
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