Das Jahr der Maus
liebend gern ihre Wohnungen samt Nachwuchs überlassen haben. Natürlich gab es aus dem konservativen Lager pathetische Aufrufe zur Rettung der Schweizer Familie, aber um die alten Knacker hat sich niemand gekümmert. Sie haben eine fortschrittliche soziale Entwicklung lange genug sabotiert und an allen Ecken und Enden behindert.«
Amber winkt einem der weißgekleideten Kellner und hält ihm ihre CredKarte zum Scannen bereit. Vinzenz will ihr zuvorkommen, sie murmelt bloß: »Reisespesen.« Sie dankt ihm für das Gespräch und erhebt sich, da die Unterredung für sie abgeschlossen ist. In einem Restaurant sitzenzubleiben, nachdem das Essen beendet ist, könnte bei einem Geschäftspartner falsche Hoffnungen erwecken. »Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Darf ich dich in etwa vier Monaten wieder kontaktieren? Eventuell werden meine Arbeitgeber in Beijing oder Singapura ein Hearing zu diesem Thema organisieren.«
Vinzenz scheint erfreut: »Klar würde ich gerne in eine der asiatischen Metropolen reisen. Ich kenne nur wenige, die das geschafft haben. Mit meiner individuellen Rohstoffzuteilung könnte ich mir eine solche Reise nie leisten.«
Er fragt sie, ob sie für den restlichen Abend bereits etwas vorhabe. Er könne ihr eine Einladung zu einer Modenschau vermitteln, denn er habe zwei Karten und noch keine Begleitung.
Amber fragt: »Business oder privat?«
»In meinem Beruf gibt es diese Trennung nicht«, antwortet er ihr trocken und diplomatisch zugleich.
Sie bejaht, indem sie die Oberlider neigt. In diesem Moment wird ihr bewußt, daß die diskrete Körpersprache Südostasiens hier nicht verstanden werden könnte, und fügt bei: »Ich freue mich über die Einladung und komme sehr gerne mit.«
SIFU
Vor dem hell erleuchteten Gebäude mit der großzügig gestalteten Glasfassade stehen bestimmt vierhundert Menschen, die sich auf den Eingang zudrängen. Die Aufmachungen riechen förmlich nach Geld, obwohl sich alle sichtlich bemüht haben, wie beiläufig die teuren Modelle von Thani & Jassim oder Perez zu tragen. Der warme Abend weckt Erinnerungen an die samtigen Düfte des Herbstes: Blattlaub, Morgennebel, Nieseln. Das Übersetzungsmodul trägt ihr Gesprächsfetzen der sie umgebenden Menschen zu, der Satz »… gegen die Bios muß etwas unternommen werden …« wird in einem bedrohlichen Ton geäußert.
Sie passieren das Eingangsportal und werden ins Untergeschoß gebeten. Scheinwerfer erhellen einen Laufsteg, eine kühle Frauenstimme kündigt die Models an, die speziell aus Quebec eingeflogen wurden, und bittet um Applaus.
Zu lauter rhythmischer Musik, die in Singa bei einem ähnlichen Ereignis nicht eingesetzt würde, weil sie zu sehr mit Easy verknüpft ist, federn große, sehnige Menschen in schillernd bunten Röcken über die Bühne. Eine dunkle Afrofrau mit violetten Augen, eine rothaarige Japanerin, ein blasiert lächelnder Muskelblondie. Ihre Bewegungen sind tierhaft, sinnlich.
Der Blick eines Latin lovers trifft Amber mit voller Wucht, er fixiert sie überlegen, seine pechschwarzen Haare sind mit Wachs auf den Schädel geklackst. Einige Frauen brechen in spontanen Applaus aus, obwohl er einen eher traditionellen Smoking trägt.
Was, zum Teufel, ist hier los?
Ein Typ, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Huang hat, stelzt in einem anliegenden petrolblauen Overall mit Reptilienprägung über den Steg, endlos langsam, unendlich schleppend.
Das Murmeln im Publikum ist verstummt, alle Blicke sind auf den kahlgeschorenen Asiaten gerichtet. Mit ausgestreckten Händen scheint er einzelne Zuschauerinnen zu ermuntern, ihm entgegenzukommen.
Ein Mädchen in Zuckerfarben schmeißt sich ihm wie von Sinnen in die Arme. Er küßt sie auf die Wange, nimmt ihre Hand und geleitet sie als Königin an seiner Seite über die Bühne. Er wirft den Kopf zurück, lacht heiser und verschwindet im Dunkeln.
Neben Amber tuscheln zwei jungen Männer, sie reden von den Models wie von Superstars, anscheinend ist der Schlangenmann ihr absolutes Idol.
In diesem Moment stürmt eine Gruppe von aufgebrachten Demonstranten das Gebäude, in rhythmischen Sprechchören skandieren sie: »Raus mit den Bios!« und »Die Models sind Genmutanten!« Einige stürzen sich auf die Models und zerren sie von der Bühne, wobei vereinzelte Biohasser im Publikum, die vor zwei Minuten noch von der Geschmeidigkeit und dem charismatischen Auftreten beeindruckt waren, sich nun an den Pöbeleien beteiligen.
Amber hat im Durcheinander
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