Das Jahr der Maus
Ursprung der Hackeraktivität zu orten, es gelang ihnen jedoch auch nicht, Sifu zu überlisten. Amber wird sich in den nächsten Tagen mit dieser Geschichte befassen müssen. Aber nicht jetzt, dazu ist sie im Moment zu müde. Sie läßt sich aufs Sofa fallen und schläft bis in den Nachmittag hinein.
Zwei Wochen später fliegt Amber via Beijing nach Zürich. Sie trifft sich am Flughafen der Han-Union mit ihrem Vorgesetzten Wen Zhen Xing, einem jovialen Mittvierziger, der ihr in der Han-Lounge für ihre guten Dienste in den ersten beiden Jahren eine holografische Medaille mit einem goldenen Stern überreicht. Sie verbeugen sich voreinander, Amber übernimmt mit beiden Händen das Geschenk und dankt mit den Worten: »Ich bin dieser Auszeichnung nicht würdig.«
Wen schüttelt ihr enthusiastisch die Hand, klopft ihr auf die Schulter und prustet heraus: »Nur nicht so bescheiden!«
Es bleibt noch Zeit für einen Krug Drachentee und trockene Kekse. Danach verschwindet Wen mit einer Gruppe HanNet-Funktionären in die nächste Sitzung.
Amber besteigt eine Maschine der Helvetic Air, die früher Beijing mit dem Orbit verband, bevor die wasserstoffgetriebenen Shuttles alle anderen Motorentypen ersetzten. Sie fliegt so oft sie kann mit Helvetic Air, denn fast alle Flight Attendants sind hübsche junge Männer, die sich aufmerksam-distanziert um ihre Gäste kümmern. Die Blickkontakte mit ihnen sind besser als eine ganze Anzahl Affären. Den vierstündigen Flug verbringt sie mit Lektüre, einem vegetarischen Imbiß, den ihr ein Mann mit klaren Saphiraugen überreicht, und einem kurzen Schlaf.
Für die Dauer des Aufenthaltes in Zürich mietet sich Amber ein Fahrrad; die gut ausgebauten boulevardähnlichen Velowege und das sonnige, etwas windige Wetter laden zum Radeln ein. Motorbetriebene Privatfahrzeuge scheinen aus der Stadt weitgehend verbannt, dafür ist ähnlich wie in Singa das Netz der öffentlichen Verkehrsmittel gut ausgebaut: Straßenbahnen, Trolleybusse, Linienschiffe und einer S-Bahn, die zum Teil unterirdisch geführt wird.
Mit der Arbeit kommt sie schnell voran, da alles gut organisiert ist und die Leute, die sie trifft, sehr kompetent und hilfsbereit sind. Seltsam, daß die Schweizer Föderation sich noch immer nicht der Euro-Union angeschlossen hatte. Wahrscheinlich wurde es als Charakterstärke und Unbeeinflußbarkeit gewertet, nicht dazu zu gehören und trotzdem, oder gerade deswegen, bei allen wichtigen Geschäften wie Raumfahrt, Gentech, Finanzen die Nase vorn zu haben.
Amber hat zwei Freitage eingeschaltet und eine Badeanstalt am Fluß entdeckt, die keine Wünsche offen läßt: sauberes grünes Wasser, ein kleiner Kiosk für Getränke und Imbisse, geschmackvoll renovierte Architektur, die die klaren Linien der 150jährigen länglichen Gebäude schön zur Geltung bringt. Und alles umgeben von großen Birken, Linden, Eichen und Buchen.
Ein schmaler Fußweg führt flußaufwärts, in regelmäßigen Abständen sind an einer mit Flechten bewachsenen Mauer metallene Leitern ins Wasser montiert. Das Gras ist fahlgolden gedörrt und zertrampelt, dazwischen sind knorrige Baumwurzeln sichtbar. Die Luft riecht nach Heu, Algen und Laub. Vor lauter Cyberspace und interplanetarer Raumfahrt gehen diese sinnlichen Wahrnehmungen allzu oft verloren.
Amber schlendert leichtfüßig über den Weg, spürt die Unebenheiten des Teerbelags unter den Fußsohlen, die Schattenmuster der Blätter und Äste auf ihrer Haut. Ein schmales Band zwischen der frei fließenden Sihl zur Rechten und der kanalisierten Limmat zur Linken. In der Ferne das Rumoren der Stadt, diese Ruhe und Einsamkeit inmitten einer Ansammlung von Häusern, Straßen, Menschen. So wird Sterben sein, allein auf einem Fußweg, die Wärme des Sommers auskostend, mit einem Mal die Sicherheit, daß es kein Zurück gibt. Sich über die Leiter langsam ins Wasser gleiten lassen, der Schauder bei der ersten Berührung der kühlen Flüssigkeit mit den Füßen, dann Beine, Becken, Oberkörper eintauchen. Mit den Armen weit ausholen und sich von der Strömung mittragen lassen, die Augen schließen, das Murmeln in den Ohren, das Wasser ist der Fluß des Universums. Amber braucht nicht mehr zu schwimmen, sie wird gehalten, Sorgen und Freuden sind vergessen, die Zeit ist die Bewegung, in der sie mitfließt. Das Ego löst sich auf, frei endlich, keine Traurigkeit, eher Erleichterung.
Einige Tage später hat sich Amber mit Vinzenz Frei verabredet, einem
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