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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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ihr erscheint die vertraute Figur ihres Expertenprogrammes, ein älterer Chinese, in traditioneller Kleidung mit der seitlich zugeknöpften Jacke und wattierten Hosen.
    Amber hält ihm ihre rechte Hand entgegen, damit er sie überprüfen kann. Ihre Fingerabdrücke sind der Zugangscode zum integralen Programm. Sie mag Sifu, gerade weil er eine synthetische Persönlichkeit ist. Sie hat die ursprüngliche Software während ihrer Studienzeit von Freunden bekommen, die es für einen mißglückten Programmierversuch hielten. Während der letzten Jahren erweiterte sie sie fortlaufend mit Upgrades und Erweiterungen. Ein solches Produkt hat sie sich schon immer gewünscht, es auf dem Markt aber nie gefunden.
    Amber fragt: »Ni hao?« [7]
    Sifu antwortet: »Hen hao, ni ne?« [8]
    »Wo hen hao.« [9]
    Ihr Begrüßungsritual ist ein zusätzlich eingebauter Stimmcheck, falls ein Unbefugter sich durch den ersten Test geschummelt hat. Dann gibt sie Sifu Zugang zu ihrem Translator, zusätzlich fügt sie mündlich bei, was an der Modenschau passiert ist. Die Begegnung mit Phil läßt sie weg. Sifu wird den Text redigieren, kürzen, mit wichtigen Details aus der Bibliothek ergänzen und in zehn bis fünfzehn Minuten druckreif formulieren. Er kennt HanNets Wünsche betreffend Präzision und Knappheit genau, und wird kein überflüssiges Blabla produzieren.
    »Sifu, was ist mit den Hackerattacken?«
    Er lächelt wie Dschingis Khan, als hätte ihm Amber einen subtilen Scherz erzählt. Er wiegt den Kopf von der linken zur rechten Seite: »Kein Grund zur Unruhe. Die Eindringlinge kommen nicht über meine Mauern.«
    Amber fällt auf, daß die hölzernen Bretterwände durch feste Mauern ersetzt wurden, die zudem an Höhe gewonnen haben.
    »Auch das Tor habe ich verstärkt«, sagt Sifu schmunzelnd.
    Amber ist beruhigt und tippt über die mündlich aufgerufene Tastatur – nach Wunsch in lateinischer Schrift oder mit chinesischen Zeichen – Ledas Cyberadresse in ihrem privaten Site ein. Über die geschäftliche Geisha-Adresse kommt sie nie ans Ziel, vor allem weil sie keinen offiziellen Termin vorzuweisen hat. Amber hat mit ihrer Freundin nichts Konkretes verabredet, sie kennt Leda jedoch gut genug, um zu wissen, daß sie sofort in den virtuellen Raum einsteigt, wenn Amber sich von dort meldet und sie Zeit hat.
    Ein pinkfarbenes WARTEN-Signet blinkt auf, dann setzt sich aus einzelnen Pixeln eine Art schummriges Boudoir zusammen, das von unzähligen Kerzen erhellt wird.
    Auf einer Recamiere liegt eine muskulöse nackte Venus mit unzähligen Tätowierungen. Ihre Brustspitzen sind mit kupferfarbenen Ringen gepierct. Ein größerer Ring ziert den linken Nasenflügel. Sie ist von mehreren Frauen umgeben, die ihr zu Füßen sitzen. Leda sieht gebannt hoch und winkt Amber zu sich hin. Amber nähert sich ihrer Freundin, die sie zur Begrüßung auf den Mund küßt und innig umarmt. Eine Parfümmischung aus Rosenholz und Patschuli erfüllt den Raum.
    »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?« fragt Leda.
    »Mehr als ein halbes Jahr. Sorry, ich hatte so viele Aufträge, die Freundschaften haben alle darunter gelitten. Deine Mails haben mir in Erinnerung gerufen, daß es dich gibt.«
    »Ambers sprichwörtlicher Fleiß«, spottet die blonde Freundin, »und jetzt bist du zu mir gekommen, weil du allein nicht mehr imstande bist, Spaß zu haben. Soll ich Chang aktivieren? Er ist das süchtigmachendeste Sexspielzeug unserer Hemisphäre, du wirst ihm sofort verfallen.«
    Amber schmunzelt: »Nein danke, ich wollte mit dir allein reden. Kann ich offen sein?«
    Leda nickt und tippt mit den Händen eine Art Metallkugel an, die wächst und die beiden Frauen mit einem diskreten Surren zu umschwirren beginnt. Eine elektronische Störfrequenz, die es den Anwesenden unmöglich macht, etwas von ihrem Gespräch zu verstehen und die bisher nicht einmal von der ZuluNation geknackt werden konnte.
    Amber blickt tief in Ledas azurblaue Augen: »Sei bitte ehrlich. Hast du Huang geschickt?«
    »Nein, das war Xangos Idee.«
    »Also doch, ich dachte mir ja gleich, daß ihr zusammengespannt habt.«
    Ledas Blick wird kalt und bedrohlich wie die Schnee-Einöde der Antarktis: »Solange du für HanNet arbeitest, steckst du mit dem Feind unter einer Decke.«
    »Ach komm, sei nicht pathetisch. Ich mache bloß einen Job und verdiene damit genug Creds, um mich frei bewegen zu können; Ich will mir nicht auf einem miesen Marscamp mit quasi Null Infrastruktur den Weltraumblues

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