Das Jahr der Maus
Vinzenz verloren. Zudem erscheint ein massives Aufgebot an hochbewaffneten blaugewandeten Polizeigrenadieren in schweren Kampfstiefeln, die ihre Gummischrotgewehre provokativ in die Höhe halten. Wahllos werden Menschen und Bios verhaftet, wahrscheinlich weiß niemand genau, wer welcher Herkunft ist. Das wird erst mit aufwendigen genetischen Tests auf der Polizeiwache ausgemacht. Amber hat gelesen, daß Bios, die illegal nach HelFed eingereist sind, innert 24 Stunden ausgeschafft werden und das Land nicht mehr betreten dürfen. Das harte Vorgehen soll eine massive Einwanderung sogenannter ›Bioflüchtlinge‹ verhindern.
Amber hat keine Lust auf Ärger mit der Staatsgewalt, sie kehrt ihre Aufmerksamkeit nach innen und zwängt sich die hoffnungslos überfüllte Rolltreppe hinauf. Sie schlüpft durch den Hinterausgang, da am Hauptportal aufwendige Personenkontrollen durchgeführt werden.
Bei einem derartigen Vorfall erfaßt zu werden, macht sich auf ihrem bisher makellosen HanNet-Dossier nicht sehr gut. Es bedeutet, nicht geistesgegenwärtig und flink genug gewesen zu sein, und das ausgerechnet nach der Überreichung der Fleißmedaille. Ein Abstieg in der Hierarchie wäre die Folge, und sie verlöre ihre größte Freiheit: ihre Aufträge selbst beantragen zu können.
Amber schlendert eine Allee entlang und entdeckt um die Hausecke eine Bar namens Inferno, deren Schriftzug in flammenden Halobuchstaben lodert. Sie tritt ins Lokal ein, wird von der Sicherheitsfrau am Eingang kurz gemustert und durchgelassen. Hier wird sie warten, bis sich die Situation im Quartier beruhigt hat, denn sie ist sich nicht sicher, ob an der Modeschau Microkameras installiert waren und sie nicht doch ohne ihr Wissen erfaßt wurde.
An der Bar sitzen trendige Individuen, die den Kult des Androgynen derart weit getrieben haben, daß sie als drittes Geschlecht gelten können. Anliegende Bodyoveralls betonen Muskeln, Knochen und Rundungen, die nach allen Regeln der Kunst überarbeitet wurden. Das aufwendige Make-up verwischt die sexuelle Identität nochmals. Menschen oder Bios? Ob vor oder nach der sogenannten Geburt das biologische und genetische Material überarbeitet wird, spielt im Grunde keine Rolle.
Der Raum wird mit einem technoiden Remix aus Inuitmelodien und Opernarien beschallt. Warum soll für die lebende Materie nicht auch gelten, was in Wirtschaft, Kunst und Religion geschieht: Kopieren, Samplen, Rezyklieren? Das Ganze wird in Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut. Fehlerhafte oder schwache Teile werden ersetzt, die Körperfunktionen werden mit Hilfe chemischer Substanzen optimiert. Auch Bildung und ein sportliches Training sind ein Eingriff in die sogenannte ›Unversehrtheit des menschlichen Wesens‹, die die Biofeinde so sehr verteidigen. Amber versteht den fanatischen Fundamentalismus nicht, der an der Modenschau ausgebrochen ist. Ein Überrest der alten menschlichen Überheblichkeit andern Wesen gegenüber, die nicht genau dieselben genetischen Wurzeln haben? Dabei teilen die Menschen in Europa, Asien, Ozeanien und Amerika allesamt die Gene einer Gruppe von 500 gemeinsamen Vorfahren.
Amber erkennt in einer Sofaecke das glatzköpfige Huang-Double. Er blickt auf, seine Augen verraten eine unmißverständliche Verwandtschaft mit ihrem Singa-Lover. In einem Anflug von Heimweh und plötzlicher Einsamkeit steuert sie ihn an. Auf englisch fragt sie ihn, ob er allein sein möchte. Er scheint überrascht, lächelt, schüttelt den Kopf. Sie setzt sich ihm gegenüber auf einen violetten Samtsessel. Er fixiert sie weiterhin mit den Augen. »Kennen wir uns?« fragt er mehr sich selbst als Amber.
»Ich kenne Huang aus Singa.«
»Oh, ein entfernter Verwandter.«
»Seid ihr Models alle Bios?«
»Und du, Quicksilver?«
Amber horcht auf. Meist halten sie Unbekannte für eine Händlerin oder eine reiche Touristin. Bisher hat niemand auf Anhieb ihren richtigen Beruf erraten. Sie weiß, daß sie in letzter Zeit zu viele Fragen stellt und zu direkt auf ihr Ziel zusteuert. Sie fühlt sich sicher, den meisten überlegen, das birgt Gefahren in sich. Sie sollte ein paar Wochen freinehmen und sich entspannen.
Amber lächelt das Model entwaffnend an: »Ich entschuldige mich. Ich wollte nicht Kommissarin spielen. Darf ich dir etwas spendieren …?«
Sie zögert, weil sie beinahe ›Huang‹ gesagt hätte.
»Wu, Phil Wu«, ergänzt das Model lächelnd, »du scheinst nicht in der Modebranche zu spionieren, sonst wäre dir mein Name ein
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