Das Jahr der Maus
erfolgreichen Haushälter, der sich für ein Interview zur Verfügung gestellt hat. Sie treffen sich im Blauen Hund, einer uralten Gaststätte in der historischen Altstadt, die dem Publikumsansturm zufolge absolut in ist. Amber hat Vinzenz übers Netz kontaktiert und dort sein Foto gesehen, nun sucht sie in der Menge nach der blonden Lockenmähne. Ein etwa dreißigjähriger Mann winkt ihr von einem der Tische unmittelbar am Wasser zu.
Die Gasse ist mit altmodischen Steinen gepflastert, die in federartigen Mustern angeordnet sind. Himbeerrote Wolken spiegeln sich auf dem dunkelgrünen Wasser des Flusses, Waidlinge und Solarboote transportieren vergnügte Menschen von einem Ufer ans andere. So könnte das legendäre Venedig ausgesehen haben, das zur Zeit von Ambers Geburt endgültig im Morast der Lagune versunken ist. Sie hatte die 3D-Nachbildungen davon im Museum of Natural History in Los Angeles gesehen.
Amber streckt ihm die Hand entgegen, denn so begrüßen sich die Leute hier – in Singa nickt man einander zu; wenn es ein Big Shot ist, verbeugt man sich.
Vinzenz schüttelt ihr die Hand, er strahlt Wärme und Kompetenz aus. Kein Wunder, daß ihm seine Auftraggeberinnen Vertrauen schenken. Das Menu, das er zusammenstellt, ist ausschließlich vegetarisch: Kürbiscremesuppe, Buchweizenrisotto mit Pilzragout, Panna cotta auf Hagebuttencoulis, dazu ein Walliser Chardonnay, der vor Sonnenlicht golden strahlt.
Das Gespräch verläuft erfreulich, Vinzenz erzählt offen von allen Vor- und Nachteilen seiner Arbeit. Amber nimmt mit dem eingebauten Chip alles auf, bei einem sichtbaren Aufnahmegerät sprechen die Interviewpartner meist viel befangener.
Ausgehend vom Mangel an natürlichen Ressourcen wie Bodenschätzen und Tropenklima, hatte die HelFed, wie das verbreitete Kürzel des Landes heißt, sich schon immer gezwungen gesehen, kreative Lösungen zur Existenzsicherung zu finden. Neben der biologischen Landwirtschaft und einer diversifizierten Energiewirtschaft, die mit Wasser, Wind, Sonnenlicht, Erdwärme und Biogas Energie erzeugte, waren natürlich die Menschen selbst das größte brachliegende Potential. So waren die Vorfahren Vinzenz’ während Generationen Söldner für fremde Herrscher und Emigrantinnen und Siedler für neu erschlossene Weltgegenden gewesen.
Als die Geishas vor etwa sechzig Jahren damit begannen, die Leistungen und Jobs, für die bis anhin nie bezahlt wurde oder die einen geringen sozialen Status hatten, professionell und aggressiv zu reorganisieren, gab das einer Gruppe Männer in HelFed Auftrieb. Sie begannen ihre Erfahrungen und Talente im Bereich der Hauswirtschaft und Kinderbetreuung zu verkaufen. Gerade der hohe Anteil an alleinerziehenden Müttern, die ihren Nachwuchs mit Sperma von der Samenbank gezeugt hatten oder Invitrokids großzogen, begrüßten diese Entwicklung, da sie eine zuverlässige männliche Bezugsperson für ihre Kinder wollten.
Amber ist den Alkoholkonsum nicht gewohnt, die Menschen hier trinken diese Getränke wie Limonade. Sie schweift beim Zuhören ab, erinnert sich an die Nacht mit Huang. An das Muttermal unterhalb des Bauchnabels und seinen durchtrainierter Körper. Eher Kungfu als Kraftmaschine. Die zurückhaltende Art, mit der er mehr offenbart als verbirgt. Daß er sehr leidenschaftlich ist und sich völlig gehenläßt. Er hat ihr zwei kurze Mails geschickt, die sie nicht beantwortet hat. Etwas zu aufsässig für einen Callboy, es roch mehr nach einem gefaßten Auftrag. Was Huang von einem Job als Hausmann halten würde? Wahrscheinlich würde er sich nicht damit zufriedengeben, für Kids zu sorgen, zu kochen und den Haushalt zu schmeißen. Unsichtbare Arbeit eben, dann lieber sich mit wohlhabenden Kundinnen in eleganten Restaurants und angesagten Events sehen lassen. Lieber Sexarbeiter, von dem alle wissen, was er tut, als eine graue Maus sein, die im Verborgenen werkelt.
»Und wie ist euer sozialer Status?«
Vinzenz scheint vergnügt: »Seit sich die Amis und Asiatinnen richtiggehend auf unsere Männer und ihre Dienstleistungen stürzen und harte Dollars heranrollen, genießen wir im eigenen Land ein steigendes Ansehen. Ich erhielt letztes Jahr den Preis der Wirtschaftskammer für das innovativste Business. Das sagt alles.«
»Ist es den Frauen leicht gefallen, ihre angestammten Domänen aufzugeben?«
»Das ging reibungsloser als erwartet. Die meisten Frauen hatten derart die Nase voll von der seit Generationen gratis erbrachten Arbeit, daß sie uns
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