Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
rechtlos, und wenn man Pech hat, gerät man an Vorgesetzte, die mit Hingabe Leute schikanieren. Hab ich keinen Bock drauf, ehrlich.«
»Ja, Mann, das ist wirklich scheiße. Ich bin kein Freund von Drill. Ein sensibler Mensch kann daran zerbrechen. Genauso wie im Knast. Ich hab da meine Erfahrungen.«
Meine Offenheit schien dem Türken zu gefallen. Er entspannte sich. Vielleicht sah er nun nicht mehr in erster Linie den Deutschen in mir. »Neulich hast du so komische Sachen gesagt. Da ging es um mehrere Tote, um Gangster, Bankraub. War das ernst? Ich meine, stimmt das alles?«
»Ich weiß nicht mehr genau, was ich im Suff alles von mir gegeben habe, aber vermutlich war’s die Wahrheit.« Mit beiden Händen strich ich mir über die Augen und Wangen, als wolle ich mich symbolisch reinigen. Seit meiner Entlassung aus dem Knast hatte ich so viele Erlebnisse sowohl skurriler als auch tragischer, beängstigender Art verkraften müssen, dass ich manchmal glaubte, die Masse der Eindrücke werde demnächst alles andere aus meinem Kopf verdrängen – die positiven Gefühle, die freundlichen Gedanken, überhaupt alles, was einen Menschen sympathisch macht. Vielleicht, dachte ich oft, ist im Knast alles Sympathische an mir verdorrt, womöglich schon während der ersten Gefängniszeit in den 60er Jahren.
Dann erzählte ich Bülent – den ich kaum kannte, der mit der einen Hälfte seiner Seele in einer mir fremden Kultur zu Hause und mit der anderen Hälfte in Deutschland noch nicht angekommen war – die ganze Story.
Der Vormittag trieb dahin, wir tranken Unmengen Kaffee, der Aschenbecher quoll schon über, und schließlich waren auch die Kekse an der Reihe.
»Mann, ey«, stieß Bülent aus. Im Verlauf meines Redeflusses waren seine Augen immer größer geworden, ein paarmal hatte er den Mund sperrangelweit geöffnet, ich sah ihm an, wie fasziniert er war, doch auch gelegentlicher Abscheu, auch Entsetzen zeigte sich in seiner Miene. Er blickte verstört in eine Welt, die er so ähnlich nur aus Filmen kannte. Gangsterfilme fand er gut. Vor allem die knallbunten, lauten Maschinenpistolen-Filme. Üblicherweise siegte das Gute, und alles war sowieso nur Kulisse, Ketchup, Stunts. Von dem, was er aus meinem Mund vernahm, kollidierte fast alles mit seinen Moralvorstellungen. Ein Mann erschießt seine Frau – okay, ist beschissen, kommt aber vor. Drei Gangster stürmen eine Wohnung und werden dabei erschossen – damit muss man rechnen, wenn man eine fremde Wohnung stürmt. Aber das andere: Freundin mit Domina-Studio, ein dicker Elvis-Imitator, der für Geld seinen Arsch hinhält, der Diebstahl von Baufahrzeugen, die Zerstörung eines Hauses, Banküberfall, Maschinenpistolen – und nun in Hamburg schon wieder Kontakt mit dem Verbrechen beziehungsweise mit Verbrechern, die diesen an sich netten, aber total verrückten Mann aus Würzburg vor ihren verfluchten Karren spannen wollen. Bülent sagte, es käme ihm vor, als hätte ich einen Mülleimer vor ihm ausgekippt. Schöner Vergleich, gefiel mir, ich hatte ja tatsächlich, um bei der Metapher zu bleiben, in meinem Leben einen gewaltigen Müllberg angesammelt. Er runzelte die Stirn, sah mich beschwörend an. »Das ist der falsche Weg, Mann, den darfst du nicht weitergehen.« Und während er das sagte, formte sich sein Mund zu einem schiefen Grinsen, in dem so was wie eine Entschuldigung lag, als hätte er sogleich das Naive in seiner Ermahnung erkannt.
Ich grinste ebenfalls. Nicht etwa entschuldigend, wieso auch?, nein, bedauernd. »Ich muss leider bald los, um die 100 000 Dollar abzuholen, das Falschgeld. Berti hat offenbar vor, jemanden, der ihm was verkaufen will, zu linken. Ich weiß bloß nicht, warum er mich dazu braucht.«
»Woher hat er das Falschgeld denn?« Auf einmal, sehr sonderbar, beteiligte Bülent sich erregt am Rätselraten. Als wäre dieses Abenteuer der jeden Tag ersehnte Ausweg aus dem bisherigen ereignislosen Leben in einer tristen Gegend am Rande der deutschen Gesellschaft. Mit sechs Jahren war er aus Anatolien nach Hamburg gekommen, acht Jahre Schule, seitdem beschissen bezahlte Arbeit in einem türkischen Lebensmittelladen in der Paul-Roosen-Straße, nur türkische Freunde, natürlich keine Freundin, strenge Regeln, alles war tabu. Manche Wochenenden zogen sich so zäh dahin, dass er befürchtete, irgendwann die Kontrolle über sich zu verlieren und völlig auszurasten.
Er sprach weiter, engagiert, voll bei der Sache: »So, wie du diesen Berti
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