Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
peinlich berührt, das Thema wechselte: »Schade, dass du so viel jünger bist als ich. Das bedeutet nämlich, dass du die 50er Jahre gar nicht richtig mitgekriegt hast.«
»Hey, hey, nun mal langsam! Ich hab schon 1957 AFN gehört. Da war ich elf. Und ein Jahr zuvor hatte ich dieses Erweckungserlebnis, mit Bill Haley. Ein Freund von mir besaß ein gutes Dutzend Rock’n’Roll-Singles – Elvis, Little Richard, Gene Vincent, Chuck Berry, die ganze Palette. Und natürlich kannte ich die ganzen Ami-Schlitten, die durch Würzburg fuhren, die Chevis, Dodges, Fords und Pontiacs.«
Sein mildüberhebliches Lächeln ärgerte mich. »Na ja, aber das waren doch alles nur Eindrücke vom Rand des Geschehens, der Blick aus dem Sandkasten …« Er lenkte begütigend ein, als er meine gerunzelte Stirn registrierte. »Klar, Buddy, du hast den Rock’n’Roll begriffen, das ist ja auch das Wesentliche, und ich bin keineswegs stolz darauf, bald vierzig zu werden – trotzdem ist es ein Unterschied, ob man nach den Hausaufgaben eine Elvis-Single auf den Plattenteller legt, oder ob man nachts in einer verräucherten Kneipe mit einer filterlosen Lucky zwischen den Lippen und einer Bierflasche in der Hand vor einer Musikbox steht, ein 50-Pfennig-Stück einwirft und drei Titel drückt – zum Beispiel
Hound Dog
von Elvis,
Kansas City
von Fats Domino und
Let’s Have A Party
von Wanda Jackson.«
Ich zeigte ein schiefes Grinsen. Natürlich hatte er recht. Und ich hatte ebenfalls recht. Denn die Atmosphäre der damaligen Zeit war keineswegs nur angenehm gewesen und schon gar nicht nur von Musikbox und Straßenkreuzern geprägt worden, sondern ebenso von den immer noch das Stadtbild beherrschenden Ruinen aus dem Krieg, den Kriegserzählungen der Eltern, der Angst vor dem nächsten Krieg, den vielen kleinen Nazis, die immer noch trotzig, wenn auch verstohlen, den Arm zum »deutschen Gruß« ausgestreckt hatten – und nicht zuletzt von den Spätheimkehrern, Vertriebenen und Flüchtlingen einerseits und den schon wieder Geld scheffelnden Geschäftemachern andererseits, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – ja, es hatte sich zum Erstaunen der Erwachsenen eine Zukunftsperspektive entwickelt –, vom Echo des Grauens, das noch immer vernehmbar gewesen war, von den Heerscharen schwarzgekleideter Frauen an den Gräbern der vielen, die jenem Krieg zum Opfer gefallen waren, aber auch von den ersten
Micky-Maus
-Heftchen in deutscher Sprache, von den putzigen deutschen Kleinwagen und den Kinos, die zu der Zeit für ihre Besitzer wahre Goldgruben gewesen waren. Und all das hatte auch mich geprägt, war in mich gedrungen, in jede Körperzelle, ich hatte die 50er Jahre bewusst erlebt, das war die verdammte Wahrheit.
Und das sagte ich Fred mit einer gewissen Erregtheit. Er beobachtete mich nachdenklich, nickte zustimmend, ernst. Dann strahlte er, offenbar von einer Eingebung überwältigt. »Come on, Buddy!« Tatendurstig erhob er sich. »Wir machen ’ne kleine Rundfahrt durch Friedberg und Bad Nauheim. Ich zeig dir Elvis’ Kaserne, die Villa, in der er wohnte, die Kneipen, in denen ich bis heute verkehre.« Lässig klimperte er mit dem Schlüsselbund. Hatte überhaupt das Bedürfnis, lässig zu wirken, so in der Art von James Dean und dem jungen Marlon Brando. Aber jeder, der ihm dabei zusah, merkte schnell, dass er ein weichlicher Bürgerssohn war, der seiner Jugend nachtrauerte, dem das Erwachsenendasein ein Greuel war, der am liebsten immer zwanzig gewesen wäre und es kaum verkraftete, bald doppelt so alt zu sein.
Ich hingegen, mich mit meinen 31 Jahren also gewissermaßen ungefähr in der Mitte dieser für Fred elementaren Altersstufen befindend – 20=positiv, 40=negativ –, wähnte mich im gerade richtigen Alter. Noch relativ jung, bedeutend reifer als ein Zwanzigjähriger, aber immer noch bereit zum Risiko, körperlich fit, relativ frisch, gemessen an einem Vierzigjährigen, der ja, wie ich annahm, schon deshalb verkrampft sein müsse, da er von nun an beständig die 50 vor Augen habe. Ich ging sowieso davon aus, dass ab fünfzig alles scheiße sei.
Mein lieber Scholli! Der 58er Buick Limited Riviera: Ein riesiges Schiff, teils cremefarben, teils hellblau, viel Chrom und Weißwandreifen, cremefarbenes Kunstleder auf den Sitzen. Der Motor blubberte satt vor sich hin – und während Fred mich durch die Gegend fuhr und ich die vorbeigleitende Stadtlandschaft gemeinsam mit dem Rock’n’Roll aus ziemlich guten Lautsprecherboxen an
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