Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
beachtlicher Höhe ab, aufs Parkett, es tat verflucht weh. Ich drehte mich ruckartig um. Schon wieder getrieben, doch diesmal von Panik und dem drängenden Bedürfnis, diesem Kaffee-und-Kuchen-Geruch zu entkommen, hastete ich, abermals blindlings, nach draußen.
Kalte Luft. Sie kam mir ausnahmsweise sehr gelegen, denn sie kühlte meinen erhitzten Kopf und verhinderte somit das Verbrutzeln wichtiger Hirnregionen. Und dennoch formierte sich hinter der Stirn, in dem zum Glück nicht verbrutzelten Hirn, kein einziger klarer Gedanke. Auch keine anderen Gedanken, die derlei Prädikat verdient hätten. Nichts als Emotions-Eruptionen, unkontrolliert, qualmend, ein Vulkan in mir.
Nach einer Ewigkeit, die mindestens zehn Minuten, wenn nicht länger, gedauert hatte, kehrte in meinem Kopf wieder Ordnung ein. Mein erster einigermaßen sachlicher Gedanke war: Scheiß auf Bad Harzburg! Ich gratulierte mir zu dieser psychischen Meisterleistung. Scheiß auf Bad Harzburg. In diesem bewusst knappgehaltenen, geschickt und rhetorisch rücksichtslos aufs Wesentliche reduzierten Satz steckte, wie ich erschauernd erkannte, das komplette Fundament meiner Weltanschauung. Und nicht nur meiner: Der gesamte Schopenhauer steckte da drin, purer Pessimismus, extrem verdichtet.
Auf dem Weg zum Hotel überdachte ich die Lage noch mal ganz sachlich. Warum nicht um Doris kämpfen? Siegfried Rupf, scheiß auf ihn, kleines Würstchen, kein Gegner für mich. Übermorgen ist die Weihnachtsfeier. Da geh ich hin und mach den Dicken fertig. Ich werde ihn ausbuhen, auslachen, werde laut mein Eintrittsgeld zurückverlangen. Falls Doris auch dabei ist, werde ich mich zurückhalten. Oder: Ich bring ihn eiskalt um. In den letzten Monaten hab ich so viele Tote gesehen – da kommt es auf eine Leiche mehr nicht an.
Wie ein Roboter, zielstrebig, wenn auch ferngesteuert, betrat ich die nächste Kneipe, ging mit sicherem Schritt zum Tresen, mein Blick bestrich wie ein Suchscheinwerfer das Flaschenregal, blieb am Jim Beam kleben, alles paletti, ich bestellte ganz automatisch einen doppelten Bourbon auf Eis.
Vertrauter Geruch, vertrauter Geschmack. Dazu die obligatorische Lucky Strike. Wenn jetzt Fred hier wäre.
Der einzige Gast außer mir fütterte einen Geldspielautomaten mit Groschen. Mich nervten die idiotischen Töne, die der Daddelkasten von sich gab.
»Haben Sie was von Elvis in der Musikbox?«
»Nee, nur deutsche Musik.«
»Ach? Eine ganze Musikbox nur mit deutschen Schlagern?«
»Ich hab nix gegen Amis«, knurrte der Wirt mit der steinernen Selbstgewissheit des unbelesenen Trinkers. »Ohne die wär ganz Berlin kommunistisch. Ich kann nur ihre Musik nicht leiden. Da könnt ich kotzen, bei dem Geschrei.«
Gewaltige Wut breitete sich urplötzlich in mir aus. Ich umklammerte mein Glas, kippte den Inhalt aber doch nicht, wie sekundenlang erwogen, ins feiste Antlitz meines Gegenübers, sondern in mich hinein und spuckte danach einen Satz übern Tresen: »Ich kotz dir gleich auf die Musikbox, verdammter Faschist!«
Der Wirt, groß und breitschultrig, schlurfte müde um den Tresen herum, gab mir ’ne Ohrfeige und brummte gelassen: »Wenn du deinen Arsch ganz schnell hier rausbringst, tu ich dir nicht weiter weh. Wahrscheinlich hast du Stress mit deiner Alten. Ich kenn das. Aber hier dulde ich keinen Stunk.«
Für einen Moment wandte der Zocker seinen Blick von den rotierenden Walzen und grinste mich dümmlich an.
Der Flur des Hotels roch unangenehm scharf nach einem Reinigungsmittel. Ich betrat mein Zimmer – und prallte gegen eine Wand aus Gestank. »Du Mistvieh«, zischte ich den Kater an. »Du kannst hier nicht deine Duftmarken hinterlassen. Das ist nicht dein Revier. Du bist hier nur geduldet. Igitt, jetzt muss ich überall herumkriechen und diese Sauerei abwaschen.«
Elvis blickte mich aufmerksam an, mit gespitzten Ohren, auf die spezielle Lautfolge wartend, auf gehauchtes H am Anfang und dann zweimal dunkles U.
»Hast du Hunger?« Da war es. Er miaute sowohl zustimmend als auch erleichtert – und erfreut sowieso. Elvis kannte die Whiskas-Dosen, er schien das leise ratschende Geräusch des sich durch das Blech pflügenden Dosenöffners zu lieben. Schnurrend strich er um meine Beine – und vergaß mich sofort, als der Inhalt auf seinem Teller lag und vor ihm stand.
Ich riss die Fenster auf. Mit der kalten Luft wehte Verkehrslärm herein. Während ich die Duftmarken mit einem feuchten Handtuch und Seife zu entfernen versuchte, fiel mir ein, dass
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