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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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jeden Fall so was wie Tempeldiener, wenn nicht gar Priester oder zumindest Könige in ihrem kleinen, raucherfüllten Reich.«
    Verständnislos schüttelte der Türke den Kopf, bohrte seinen Blick in die Zimmerdecke. Eine Zeitlang schwiegen wir, den Blickkontakt meidend, vor uns hin. Keine Musik. Ich hätte jetzt gern Musik gehört, so was wie
Sundown
von Gordon Lightfoot, war jedoch zu erregt und zu fahrig, um mich dem Rekorder und den Kassetten widmen zu können. Also nahm ich das Whiskeyglas in die Hand, untersagte mir aber einen anständigen Schluck und nippte nur, um Bülents Sorgenfalten nicht noch tiefer werden zu lassen. So weit war es also schon gekommen.
    »Was machen wir nun?« Er schaute mich wieder an. »Willst du trotzdem in dieser Stadt bleiben?«
    Eine berechtigte Frage. Ich antwortete langsam, als formten sich die entsprechenden Gedanken erst während des Sprechens: »Mal sehen. Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Morgen werde ich versuchen, mit Doris zu reden. Ich möchte ja trotzdem ein Freund für sie sein. Vielleicht sollten wir über Weihnachten hierbleiben, also noch ein paar Tage, was weiß ich? Ich kann im Moment nicht klar denken. Was meinst du denn?«
    Offenbar freute es ihn, dass mir seine Meinung etwas bedeutete. Seinem Gesicht war abzulesen, wie es in ihm arbeitete, wie er an einer möglichst klugen Antwort bastelte. »Na ja, weißt du, Weihnachten im Harz stell ich mir ziemlich geil vor. Obwohl ich mit Weihnachten ja eigentlich nichts zu tun habe. Aber das mit dem geschmückten Tannenbaum, den Kerzen und der Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen, dazu noch Schnee, das gefällt mir ganz gut. Es soll ja jetzt schneien, hab ich gehört. Also meinetwegen. Aber was kommt danach?«
    Ich leerte mein Glas mit einem Zug und wurde prompt gerügt. »Find ich scheiße, dass du schon mittags mit dem Zeug anfängst.«
    Den Vorwurf ignorierte ich ganz cool. Wenn es dem kleinen Scheißer nicht passt, dachte ich, kann er sich ja verpissen; das fehlte noch, dass ich mir von einem Achtzehnjährigen Vorschriften machen lasse. »Danach kauf ich mir ein Auto und fahre nach Süden, und wenn du willst, kannst du mitfahren, aber ohne Genörgel und so.«
    Wie von mir erwartet, leuchteten Bülents Augen auf und erinnerten mich an das Leuchten in den Kinderaugen an Heiligabend. Ich fühlte mich plötzlich so weihnachtlich. Aus Bülent sprudelte es heraus: So habe er sich das vorgestellt, sagte er bewegt und sprach jetzt schneller, ließ die Wörter aus sich hinausfluten, als hätte er in sich eine Schleuse geöffnet: Unterwegs zu sein, im Auto zu rauchen, Musik zu hören, kluge Gespräche zu führen, also kurz gesagt, die Welt endlich kennenzulernen, aus diesem Grund sei er doch mit mir gefahren – er habe ein fettes Stück Haschisch dabei, und vielleicht oder ganz sicher werde er mich eines Tages zum Mitrauchen bewegen können, was zwangsläufig dazu führe, dass ich mich angewidert vom Alkohol abwenden würde, womöglich auch irgendwann vom Schweinefleisch, und dann stünde einer Beschneidung und dem Studium des Korans eigentlich nichts mehr im Weg. Und das mit den Frauen, mit der Gleichberechtigung und so, na ja, es sei gut möglich, dass er sich mit diesem Thema noch gar nicht richtig beschäftigt habe. In der Bibel stehe ja auch, so viel ihm bekannt sei, dass die Frau dem Manne untertan zu sein habe, genau wie im Koran, und dennoch scheine sich zumindest die evangelische Kirche mit der Gleichheitstheorie allmählich anzufreunden, was ihn zu der Überlegung gebracht habe, dass irgendwann auch im Islam solche Vorstellungen nicht mehr kategorisch abgelehnt würden. »Freie Frauen!«, rief er, plötzlich frauenbewegt und pathetisch, in den Raum. »Warum denn nicht?« Seine Mutter, die weder lesen noch schreiben könne und in all den Jahren kaum was von Hamburg gesehen habe, sei zwar in der Wohnung alles andere als verhuscht oder gar unterwürfig, doch sobald sie mit ihrem Kopftuch und in ihrem hässlichen staubgrauen Mantel durch die enge Welt ihres Viertels gehe – vorbei an einer Million Buchstaben, Wörtern, Sätzen auf Reklameschildern, Plakaten, an Hauswänden, auf den Transparenten irgendwelcher Demonstranten, überall diese aus Buchstaben zusammengesetzten Zeichen, die ihr nicht das Geringste sagten –, bewege sie sich stets unsicher, nie souverän, immer wie auf gefährlichem Terrain. Er, Bülent, habe an jedem der letzten Tage neue Erkenntnisse gewonnen, geradezu umwerfende sogenannte Aha-Erlebnisse gehabt.

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