Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
wusste ja so gut wie nichts über diese Einwanderer. Diese Einwanderer? Deutschland ein Einwanderungsland?
Mit 15 000 Dollar in der Tasche, in diesem großen Zimmer mit Bad, schien Bülent ein völlig neues Gefühl für seinen Körper zu entwickeln. Er reckte sich wohlig, schritt auf und ab wie ein Siedler, der sein Land absteckte, und mit jedem Schritt, das sah man, wuchs sein Selbstbewusstsein. Merkwürdig: Irgendwie war ich stolz auf ihn. Dabei wusste ich genau, dass es ein übertragener Stolz war, denn ich war ja vor allem und ziemlich schlecht getarnt stolz auf mich, den Förderer und Erwecker des jungen, intelligenten Einwanderers. Aus dem konnte noch was werden, wenn ich am Ball blieb.
Bülent lag auf dem Doppelbett, mit dem Kopf auf den verschränkten Händen, hungrig wie der Kater und ich, aber offenbar sehr zufrieden und vor allem extrem mitteilungsbedürftig. Mit einem Mal, sagte er, habe sich sein Blick auf dieses Land, in dem er großgeworden sei, verändert. Er habe, selbst in der Schule, umgeben von deutschen Mitschülern, Deutschland nur aus der Sicht des Fremden betrachtet. Außer Hamburg kannte er eigentlich nur die Autobahn Richtung Süden und die überfüllten Raststätten, wenn er in den Sommerferien mit der Familie im rostigen Ford Transit in die Türkei gefahren war, in die »Heimat«, wie seine Eltern gesagt hatten, in eine Heimat, die ihm immer völlig fremd gewesen war, noch fremder als Hamburg, schon weil dort die Regeln noch strenger waren als in der Hamburger Türken-Gemeinde und weil es nicht wenige Einheimische gab, die mit Neid auf die deutschen Türken blickten. »Kannst du verstehen, in welcher Lage ich mich befinde?«, fragte er mich, nahezu flehend.
Mein zustimmendes Nicken war nicht ganz ehrlich, sondern entsprang in erster Linie meinem momentanen Harmoniebedürfnis und zudem der Beunruhigung, die mich befallen hatte, als mir klargeworden war, dass ich mich schon zu sehr auf den Jungen eingelassen hatte und bereits mehr von ihm wusste, als ich hatte wissen wollen. Ich hatte zu spät gemerkt, dass diese Nähe unweigerlich zu Verpflichtungen führen würde.
»Weißt du was, Hans?«, sagte er, sich aufrichtend und mich anstarrend. »Ich habe mir vorgenommen, im Land der Deutschen, das auch mein Land ist, nicht mehr als Fremdkörper herumzulaufen.«
Ich grinste vor mich hin.
»Warum grinst du so?«
»Nun, ich werde hier und überall vermutlich immer ein Fremdkörper sein.«
»Auch du kannst es schaffen, Hans, glaub es mir!« Sein tröstend-missionarischer Ton störte mich etwas, aber sonst fand ich’s witzig.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, stellte ich den Wagen in Goslar ab, wischte pedantisch mit einem Lappen die Spuren weg, leerte den Aschenbecher aus und fuhr per Bahn zurück nach Bad Harzburg. Jetzt ins Hotel? Etwas in mir trieb mich ins Kurviertel, das nur zehn Minuten entfernt lag. Kurhotels, Cafés, Eisdielen, Restaurants, Ramschläden und edle Boutiquen.
In der Herzog-Wilhelm-Straße promenierten die Kurgäste, überwiegend alte Leute, mit militärischer Entschlossenheit. Die jüngeren Urlauber machten sich mit geschulterten Skiern auf den Weg in die höheren Lagen, in den Schnee.
Keine Sonne. Es war nasskalt und verdammt ungemütlich.
Scheiß auf Doris, sagte ich mir schon wieder, wird ja sowieso nix mehr, du könntest jetzt schon jenseits der Alpen sein. Und danach immer weiter – Rom, Neapel, Sizilien, die Fähre nach Tunesien.
Aha, das Hotel
Sonnenschein
. Ein hässlicher Neubau. Ich wusste aus Erfahrung, dass in Hotels, die so aussahen, beschissen gekocht wurde und dass ich in dieser Küchenbrigade nicht unangenehm auffallen würde. Das war ja genau meine Liga. Allerdings wusste ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn Doris in diesem Moment aus diesem hässlichen Neubau kommen würde, eventuell, oh Graus, gar Hand in Hand mit ihrem neuen Freund, einem Koch oder gar einem Kellner. Ach was, Unsinn, sie hatte noch nie was mit einem Kellner gehabt.
Morgen werde ich es wagen, sagte ich mir, einfach ganz locker reingehen und nach Doris Hirsekorn fragen. Wenn wir uns treffen, nehme ich sie in den Arm, so ganz selbstverständlich, ohne Besitzansprüche, Ehrensache, einfach nur ungezwungen, mit breitem Lachen, das einerseits Zuneigung und andererseits Unverbindlichkeit signalisiert.
Halb hinter einem Baum verborgen, beobachtete ich noch einige Minuten den Hoteleingang, ließ auch ab und an den Blick schweifen, denn sie hätte ja frei haben und
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