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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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nicht nur für meine Freunde.«
    Und als die Kassette zu Ende war, legte Bülent los, mit
Lonely Man
, einer bei mir zwar nicht hoch im Kurs stehenden Elvis-Schnulze, aber egal, wie auch immer, der Türke sang das Lied nicht nur völlig sicher, im richtigen Tempo und selbstverständlich im richtigen Ton, sondern überdies mit dem offenbar doch nicht einmaligen Elvis-Schmelz und mit einer Stimme, die verdammt nach Elvis klang. Gewaltiges Stimmvolumen.
    Es haute mich glatt von den Socken. Ich war überwältigt und fragte mich, wie er
Hard Headed Woman
bringen würde, sobald er so frei, so unerschrocken und begierig wäre, alles aus sich rauszulassen.
    »Das war echt spitzenmäßig, Bülent, und es klang, verdammt noch mal, fast wie vom King persönlich gesungen!«, rief ich aus und schob noch eine Reihe lobender Worte nach. Er grinste, zwar erfreut, schon weil ihm meine Meinung, wie ich annahm, viel bedeutete, doch außerdem mit einem Ausdruck, der besagte, dass er dieses Lob erwartet hatte, da er sehr wohl wusste wie gottverdammt gut er war.
    Mit Reif überzogene Baumskelette, Schnee auf den Feldern und Wiesen. Da draußen hatte der Frost, wie es aussah, die Erde unbewohnbar werden lassen, alles schien vom eisigen, ungebrochen über das flache Land wehenden Wind erstarrt zu sein. Gemütlichstickige Luft im Ford Granada. Die Heizung funktionierte einwandfrei. Ich kam mir vor wie ein Astronaut in einem Raumschiff, Lichtjahre von der Erde entfernt, auf der Suche nach einem komfortablen Planeten, der möglichst nicht von Lebewesen, die den Briten ähnelten, bewohnt war, da mir der Linksverkehr ebenso zuwider war wie die Kneipen-Sperrstunde um 23 Uhr und der nach Torf und verbranntem Holz schmeckende Scotch. Es gab noch eine Reihe anderer Völker, deren Gewohnheiten auf meinem idealen Planeten nicht erwünscht waren, wie zum Beispiel … Ich ging alle – zumindest alle, die mir einfielen – durch, und kam dann ernüchtert zu dem Schluss, dass nur ich, Doris und Bülent das Recht hatten, auf diesem Planeten zu leben.
    In Bad Harzburg nahmen wir zwei nebeneinander liegende Doppelzimmer in einem einfachen Hotel in der Nähe des Bahnhofs. Wegen der Katze drückte die ältere Frau an der Rezeption ein Auge zu. Ich füllte sofort die Plastikwanne mit Katzenstreu, und Elvis, der brav ausgehalten hatte, setzte sich auch gleich erleichtert hinein.
    Noch nie zuvor hatte Bülent in einem deutschen Hotel logiert. Wenn er mit den Eltern, den beiden Brüdern, der Schwester und dem Onkel im überladenen Ford Transit in die Türkei gefahren war, hatte der Onkel, der als einziger einen Führerschein besaß, stets den Ehrgeiz gehabt, die 2 000 Kilometer schneller als all die anderen Türken mit ihren überladenen Fords zu bewältigen. Bülent hatte auch noch nie zuvor ein so großes Zimmer für sich allein gehabt. Ein kleines Zimmer hatte er allerdings auch noch nie für sich allein gehabt. »Ich teile ein kleines Zimmer mit meinen beiden Brüdern«, sagte er, deutlich überwältigt von so viel Platz. »Obwohl ich meine Eltern und meine Geschwister liebe, habe ich immer unter der Enge gelitten. Ich beneidete die deutschen Mitschüler, von denen ich wusste, dass in ihren Elternhäusern viel mehr Platz für sie war. Für mich ist die Enge oftmals unerträglich gewesen, aber ich hab meine Situation natürlich hingenommen. Was hätte ich auch anderes machen sollen? In den anderen türkischen Wohnungen sah es ja genauso aus. Es ist schön, eine große Familie zu haben, aber ich habe mir immer ein abschließbares Zimmer für mich allein gewünscht. Vielleicht empfinden ja viele Türken so wie ich, keine Ahnung, auf jeden Fall sagen sie’s nicht, wahrscheinlich aus Angst, dann ausgestoßen zu werden, wegen der Unvereinbarkeit dieses Wunsches mit der türkischen Mentalität, was weiß ich. Es gibt ja tatsächlich so eine gewisse Abschottungs-Mentalität bei vielen türkischen Einwanderern, nicht nur bei den Religiösen, auch bei vielen jungen Leuten, die sich von den Deutschen nicht akzeptiert fühlen und deshalb nicht wagen, aus ihrem Türken-Gefängnis auszubrechen.«
    Erstaunt lauschte ich seinem Redefluss. Das fand ich alles ziemlich gut überlegt und klüger als das, was ich zu diesem Thema zu sagen hatte, und ich fragte mich, ob meine Ansichten, die ich bisher für tolerant und verständnisvoll gehalten hatte, nicht doch eher gutmütig-herablassende Meinungen eines sich, wenn auch unbewusst, für überlegen haltenden Ignoranten waren. Ich

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