Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
besudelt. Doch danach kehrte gleich wieder Ruhe ein. In jeder Hinsicht, auch die Emotionen betreffend. Ich war ungemein erleichtert. Und außerdem – das musste ich mir eingestehen – ganz schön stolz, so auf die infantile Weise; ich kam mir vor wie der mexikanische Besitzer eines unbesiegten Kampfhahns.
Folgendes war abgelaufen: Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit beim Verlassen des Zimmers, schon huschte Elvis hinaus und die Treppe runter, durch die offene Haustür, hielt erst mal verdattert inne, beäugte prüfend den ockerfarbenen Hund und die ockerfarbene Katze, die ihm ebenso verdattert gegenüber standen, blitzschnell sprang er die Katze an, machte sie ruckzuck fertig, und das dabei entstehende Geschrei und Gefauche und die Wolke von ausgerissenen, aus der Haut gekratzten Haaren beeindruckte den Hund gewaltig. Er kam gleich danach an die Reihe, jaulte nach einem Krallenangriff auf die empfindliche Nase hell auf und floh ins Haus.
»Verdammt, Elvis, spinnst du?«, herrschte ich den Kater an, doch Eddy sah die Situation gelassen. »Alles okay«, meinte er. »Nun ist die Machtfrage geklärt.«
Bülent grinste verstohlen, war wohl auch ein wenig stolz auf den Rocker aus dem Schanzenviertel.
Das Tonstudio schien bestens ausgestattet zu sein. Als ehemaliger Sänger in einer Freizeit-Band hatte ich von dem ganzen technischen Schnickschnack wenig Ahnung. Mich faszinierten die beiden riesigen Tonbandgeräte. An Musikinstrumenten war praktisch alles, was Rang und Namen hatte, vertreten: Fender-Bass, die Crème der E-Gitarren, beispielsweise Fender Stratocaster und Gibson Les Paul, das Ludwig-Schlagzeug, die Hammond-Orgel, der Bechstein-Flügel, darüber hinaus standen und hingen ein Alt- und ein Tenorsaxophon, eine Trompete, Klarinette, diverse Flöten und Bongos und Kongas und was weiß ich noch alles herum.
Und, Herrgott noch mal, der Typ, dieser Eddy, konnte tatsächlich auf jedem einzelnen Instrument spielen – und zwar erste Sahne. Er fummelte wie nebenbei an einem davon herum, entlockte ihm spielerisch ein Solo, legte es weg, nahm was anderes in die Hand, ein anderes Solo, setzte sich kurz ans Klavier, hinter die Drums, an die Hammond-Orgel, in die er ein Solo drückte, das verdammt stark an Vanilla Fudge erinnerte. Eddys Eitelkeitspegel lag im Normalbereich, und dass er von sich überzeugt war, hielt ich inzwischen für sein gutes Recht. Der Mann beherrschte seinen Job. Singen konnte er auch ganz gut, sehr hell, klang ein wenig nach Tim Buckley.
Aber nun hielt es Bülent nicht mehr aus. Er drängelte sich ans Mikrofon, Eddy regelrecht beiseite schiebend. Er war von sich nicht minder überzeugt, schien nicht nervös zu sein, zeigte keinerlei Stress-Symptome, atmete ruhig und tief, obwohl er, von Gesangseinlagen bei Geburtstagsfeiern und anderen Familienfesten abgesehen, noch nie vor Publikum gesungen hatte, und er wusste sehr wohl um die Bedeutung seines ersten Auftritts vor Eddy Tietgens geschulten Augen und Ohren, schon weil ihm Doris verklickert hatte, dass Eddy bereits nach dem ersten Auftritt sein Urteil fällte. Natürlich war es nicht so, dass der König des Tonstudios gleich von Anfang an professionelle Stilsicherheit und Souveränität erwartete, nein, er hatte ganz einfach den richtigen Riecher, sah und hörte ganz genau hin, Fehler, die auf Nervosität und laienhafte Vorbereitung zurückgingen, waren ihm scheißegal. Er suchte den Kern, das Potential in den Leuten, das in ihnen schlummernde oder längst erwachte, unruhig seine Entfaltung ersehnende Talent. Ein eins zu eins von Hendrix kopiertes
Purple Haze
-Gitarrensolo ließ ihn ebenso kalt wie das dreistimmig makellos nachgesungene
Helplessly Hoping
von Crosby, Stills & Nash, wenn er, nur an der Substanz unter der glatten, glänzenden Schale interessiert, das Eigenständige, Authentische, Explosive darin nicht finden konnte. »Okay, Alter, du willst es wissen?« Eddy saß jetzt locker, gleichsam mit ihm verschmelzend, auf seinem ergonomischen, drehbaren, garantiert schweineteuren Chefsessel vor einer bedienungsfreundlich gebogenen Arbeitsplatte, die, offenbar voll auf dem neuesten technischen Stand, mit allen Extras, mit Telefon und Eisfach, allen erdenklichen Aufnahmemöglichkeiten, Mischpult und einem Dutzend äußerst mysteriöser Geräte bestückt war. Sah irgendwie futuristisch aus – und bedrohlich. Zumindest für einen, der Orwells
1984
gelesen und die darin beschriebenen technologischen Möglichkeiten als ganz schön rückständig
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