Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Auto vorbeihuschten, als hätten sie es eiliger als wir.
»Bist du doch.« Ich glotzte starr auf die Rücklichter des vor uns fahrenden LKWs. »Ich weiß, wann ich einen Schwulen vor mir habe.«
Kurze Pause, der ein Räuspern folgte. »Bist du etwa auch schwul?« Mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme.
»Nein«, sagte ich, und lachte verhalten, fast entschuldigend. »Aber mach dir nichts draus. Ich hab nicht das Geringste gegen Schwule. Ist völlig normal, hat’s schon immer gegeben, wird’s immer geben, Knabenliebe war in der Antike sogar ein Bestandteil der Kultur.«
Trockenes Schluchzen. »Mein Leben lang war ich allein mit dieser Sache. Es gab niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Auch in den Frankfurter Schwulen-Bars und mit Strichern nicht. In den Bars ging’s immer um schnellen Sex, den Strichern ging’s ums Geld. Meine Mutter wusste natürlich davon. Sie ekelte sich geradezu vor mir. Mein Vater sei auch so einer gewesen, sagte sie. Schade, dass er so früh gestorben ist. Wahrscheinlich wäre ich mit einem Vater an meiner Seite ein ganz anderer Mensch geworden.«
Ach, du Scheiße, dachte ich, jetzt werden wir bis Hamburg ein beschissenes Problemgespräch führen. Betont lässig zündete ich zwei Zigaretten an, steckte eine zwischen Freds Lippen, demonstrativ kumpelhaft, scheinbar entspannt, aber leicht anbiedernd, schon mit einem leichten Stich ins Klischeehafte. »In Hamburg«, sagte ich, »gibt es mittlerweile eine bedeutende politisch aktive Schwulenszene. Es hat sich ja in den letzten Jahren einiges getan.«
Ein weiteres trockenes Schluchzen. »Schade, dass ich meine Mutter erst umbringen musste, um frei zu sein.«
»Verdammt, Fred, du hast sie nicht umgebracht. Du hast sie abgewehrt, dabei ist sie mit der Wirbelsäule gegen die Kante geknallt.«
»Am liebsten hätte ich nach dem Schock noch auf sie gespuckt.«
»Na, na.«
»Die Sau hat mein Leben kaputtgemacht, mich zu einem unselbständigen Schwächling verformt! Auch meinen Vater hat sie wohl auf dem Gewissen.«
»Wieso? Hat er sich umgebracht?«
»Nein, das nicht. Er ist im Finanzamt die Treppe runtergefallen. Aber ich wette, das lag daran, dass er ständig von ihr gequält und auch in Gedanken von ihr beherrscht worden war.«
»Alles wird gut«, beschwichtigte ich spontan und eigentlich ratlos, auf jeden Fall jeglicher Erfahrung widersprechend.
Only The Lonely
von Roy Orbison kam genau zur rechten Zeit.
Beeindruckendes Panorama: die Elbbrücken, der Hafen, die mächtigen Kontorhäuser, das Straßen- und Schienengewirr. Große, fremde Stadt. Ich war mal in Hamburg gewesen, 1970, hatte aber nur ein paar Kneipen in St. Pauli kennengelernt – und einen dreckigen Hinterhof irgendwo in Altona, in dem ich eines Morgens verkatert und ausgeplündert zwischen Mülltonnen aufgewacht war. Ja, ja, Scheiße, Mann, ich bin schon öfter irgendwo verkatert und ausgeplündert aufgewacht.
Wir folgten den Wegweisern und landeten in St. Georg, dem Viertel hinterm Hauptbahnhof, in dem es massenhaft billige Hotels und Nutten und Kaschemmen gab. Das hatte mir zumindest der Knastbruder erzählt, von dem ich auch Gelis Adresse erfahren hatte – Eimsbüttel, Von-der-Tann-Straße 7.
Am Steindamm fanden wir einen Parkplatz. Passanten blieben stehen, um sich den Buick anzusehen.
»Haben Sie den Wagen in Istanbul gekauft?« fragte uns ein Türke. »In der Türkei gibt es viele alte amerikanische Autos, meistens Taxis, aber nicht so gepflegt.«
Ich war überrascht von der Anzahl türkischer Läden und den unzähligen dunkelhäutigen Menschen in diesem Viertel. Massenhaft Männer mit riesigen Schnauzern, Frauen mit Kopftüchern, sogar Inder mit Turban und Schwarze in bunter Tracht. Mir wurde wieder einmal klar, wie viel mir in den Knastjahren entgangen war. Deutschland wirkte einerseits bunter als damals, andererseits verunsicherte mich die Wandlung, die ohne mich stattgefunden hatte und vermutlich noch voll im Gange war. Außer Österreich und Italien hatte ich noch kein fremdes Land besucht. Nach Istanbul wäre ich gern mal gereist. Und plötzlich befand ich mich, wie es aussah, in der Türkei. Das beunruhigte mich ein wenig, weil das Fremdländische, wie ich dachte, gar nicht hierher gehörte.
Steindamm, Hansa-Platz, Bremer Reihe, Stralsunder Straße und so weiter. Überall reihte sich Kneipe an Kneipe, darüber schäbige Hotels. Spielhallen schienen in zu sein. Blutjunge, mittelalte und steinalte Nutten lehnten an Hauswänden und
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