Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
künstliche Harmonie zerstören. Und wegen der Harmonie saßen wir ja schließlich hier in diesem verrauchten Laden. Ich hatte keinen Bock auf Nutten, Fred wusste nicht, wo sich die Schwulen-Kneipen befanden und traute sich nicht, die Wirtin zu fragen.
Angenehme Kneipe. So muffig-geschmacklos, dass sie schon wieder gemütlich wirkte. Eine beeindruckende Ansammlung von Kitsch: Buddelschiffe, kleine Anker, Barkassennachbildungen aus Plastik, Barbie-Puppen in von der Wirtin genähten Seemanns-Uniformen, Schneekugeln mit dem Michel, einem Segelschiff, einem Seemann und dem Bismarck-Denkmal darin, ein von Porzellanhunden umstellter ausgestopfter Dackel namens Lumpi, an den Wänden vertrocknete Lebkuchenherzen mit so sinnigen Sprüchen wie:
Auf ewig dein, Ich liebe dich
, oder
Alles wird gut
, etwa hundert gerahmte Fotos mit Hafenmotiven und signierten Porträts weltberühmter Hamburger wie beispielsweise Uwe Seeler, Henry Vahl, Aale-Dieter, Wilfrid »Frieda« Schulz und Hans Scheibner. Na ja, alles nicht so schlimm, eher erheiternd – das Angebot in der Musikbox war allerdings deprimierend, bestand ausschließlich aus Liedern, die wahrscheinlich in den Folterkellern des KGB oder meinetwegen auch des CIA erfolgreich zur Zermürbung feingeistiger feindlicher Agenten eingesetzt wurden. Gerade sang Lolita:
»Seemann, lass das Träumen,
denk nicht an zu Haus,
Seemann, Wind und Wellen
rufen dich hinaus …!«
Und da klatschte einer seine Pranke auf den Tresen und brüllte und schluchzte: »Aufhören, verdammte Scheiße! Wegen dem Scheißlied bin ich damals zur See gegangen! Das Scheißlied, das verschissene! Von wegen Romantik! Nur dreckige Häfen und verdammte Kanaken! Und nun sieht man hier in Hamburg auch überall verdammte Kanaken! Nun kommen sie alle hierher, um uns auszusaugen! Ist doch so! St. Georg ist bis unters Dach gefüllt mit Ausländern, Fixern und Schwulen! Die Scheiß-Demokratie! Ich scheiße auf die Demokratie, verdammte Scheiße!«
Fred, ziemlich besoffen, aber auch ziemlich groß und mit Lederjacke, einer Schirmmütze, wie sie Marlon Brando in
Der Wilde
so vorteilhaft trug, in schwarzen Jeans und mit einem Stilett in der Hand recht respekteinflößend, brüllte zu meinem Entsetzen den Brüller an: »Wenn du Stunk suchst, geh ich gern mit dir vor die Tür – und danach wird nur einer von uns beiden in der Lage sein, hier noch ein Bier zu bestellen, du Faschist!«
Für einen Augenblick war jeder – bis auf Lolita (»… deine Heimat ist dein Schiff, deine Freunde sind die Sterne …!«) – mucksmäuschenstill. Verzweifelt, wenn auch im stillen mit Freds Reaktion völlig einverstanden, zupfte ich an seiner Lederjacke. Alle Augen waren auf meinen Freund gerichtet, in den meisten der mit diesen Augenpaaren verbundenen Hirne schien die Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen zu sein; ich sah förmlich, wie die Gehirne arbeiteten, und da ich wusste, dass hinter solchen Stirnen nicht etwa die Ratio herrscht, sondern das allseits bekannte Gebräu aus dumpfen Emotionen, ahnte ich, lebenserfahren wie ich war, sogleich Unheil.
Und schon zeigte die Wirtin ihren Gästen den Weg: »Rocker mit Stilett sind hier unerwünscht! Geh mit deinem Messer woanders spielen!«
»Moment mal!«, rief Fred, mein Gezupfe an seiner Jacke ignorierend, »Unterstützen Sie etwa die rechtsradikalen Thesen dieses Fünf-Mark-Strichers?«
Stricher? Nun ging das Geraune los. In jedem Gesicht ein Fragezeichen. »Erwin ein Strichjunge? Mit seinen achtundvierzig Jahren und der beschissenen Fresse? Das ist doch Quatsch. Vielleicht früher mal – aber eher nicht.«
Erwin sagte dazu nichts. Er dachte, wie man deutlich sehen konnte, nach, musste erst mal kapieren, was hier überhaupt los war, warum dieser Rocker auf einmal so aggressiv geworden war.
Die Wirtin, eine ältere Dame, schmal, aber sehnig, mit strengen Gesichtszügen, klatschte wortlos die Rechnung auf den Tresen. Fred stierte angestrengt auf den Zettel, auf die Zahl unter dem Strich, keine hohe Zahl, eindeutig kein Nepp; er hob den Kopf und stierte, immer noch angestrengt, auf die Frau. Seine Augäpfel waren von roten Äderchen marmoriert. »Was soll das? Fucking bitch! Solche wie dich kenn ich genau! Aber der Tod steht schon hinter dir und wird schon bald seine eiskalte Hand auf deine Schulter legen, alte Schreckschraube!«
Dummerweise wurde diese Wirtin – Uschi – von ihren Stammgästen wie eine Göttin oder zumindest eine Priesterin verehrt. Scheiß auf das Stilett,
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