Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
sie nackt auf ihrem ebenfalls graubraunen Bett liegen, an sich herumspielend, Schabernack mit ihren großen Titten treibend … Blödsinn! Von mir enttäuscht, löschte ich dieses Bild und projizierte sogleich ein anderes auf die innere Leinwand, mit Weichzeichner und einem Stich ins Rosa: Doris im Schneidersitz auf dem Bett, bekleidet mit indischen Tüchern, flankiert von Räucherstäbchen, Augen geschlossen, den Kopf zur Musik wiegend, verloren in Träumen vom Autofahren durch die europäische Nacht, von Sex auf dem Rücksitz einer Limousine, von Liebkosungen … Verdammt, ey. Ich schreckte hoch. Was ist das denn? Krachende E-Gitarre, knallhartes Schlagzeug, wummernder Bass, rauhe Schreistimme, alles klar, 70er-Jahre-Rock’n’Roll – Nazareth,
Vancouver Shakedown
, geile Mucke, volle Kanne, doch in diesem Moment wie ein Tritt in den Arsch. Mysteriöse Doris Hirsekorn. Nach ein, zwei Minuten gelang es mir, die fremde Frau von nebenan auch in Verbindung mit Nazareth zu verklären.
Noch einen Bourbon und noch einen. Es kommt stets darauf an, wie man drauf ist. Entweder sieht man betrunken das Zimmer, die Welt, die persönliche Situation in einem wohltuenden, sanft gedämpften Licht oder das Graubraun sickert in einen hinein und verteilt sich in alle Körperzellen – voll der Blues, geile Musik, sowieso, aber zentnerweise Selbstmitleid, Verbitterung, Resignation.
Heute war es natürlich der Blues. Er trat mir voll in die Eier. Die Einsamkeit der Entwurzelten. Für mich gab es keine Verwandten mehr. Es war schon so lange her, dass ich einen von ihnen gesehen hatte, ich wusste gar nicht mehr, ob sie mir oder ich ihnen den Arsch irgendwann zugekehrt hatte – und es war mir auch schnuppe. Meine Freunde von einst waren Typen wie ich – ruhelose Outlaws, Straftäter, Vagabunden, Spieler, Trinker, Nachtschattengewächse, grundsätzlich zur Einsamkeit verdammt. Fred war mein Freund, ein leider etwas infantiler Freund. Und überhaupt, diese beschissene Welt: Ein Alfa-Romeo-Fahrer fuhr einen Igel platt und merkte es nicht einmal; der Angestellte in einer Dorf-Bankfiliale saß grinsend hinter Panzerglas, fraß während eines Überfalls seine Käsestulle und hoffte, der Gangster würde die Geisel erschießen; Elvis, zu einem unförmigen Monster mutiert, gab still und leise den Löffel ab; Ignatz Moser entpuppte sich als Ratte; und ich hatte seit sieben Jahren keine Möse vor der Flinte. Früher, ja früher hatte zumindest Ladendiebstahl zu den einfachsten Übungen gehört. Auch vorbei. Während meiner Zeit im Knast mussten die Produzenten und Aufsteller von Video-Kameras einen unglaublichen Boom erlebt haben. Jetzt glotzten einen diese elektronischen Augen überall an, in jedem zweiten Laden, in Bahnhofshallen, öffentlichen Gebäuden. George Orwell ließ grüßen. Und nun war ich ausgerechnet in der Folterkammer von Herrn und Frau Schmehle gelandet, deren pathologischen Geiz ein Psychologe womöglich sachlich und frei von Emotionen hätte analysieren können, was mir die beiden jedoch um kein Stück sympathischer machen würde.
»Na, Sie lassen sich’s aber gutgehen«, flötete Frau Schmehle bösartig, während ihre Falkenaugen über meinem Frühstücksteller kreisten. »Zwei Scheiben Wurst auf einer Brötchenhälfte. Das würde
ich
mir nicht erlauben.«
»
Ich
hab’s mir erlaubt«, erlaubte ich mir zu antworten. »Die Scheiben sind so dünn, dass man durchsehen kann. Ich hab also quasi nur eine normal dicke Scheibe auf dem Brötchen.«
Frau Schmehle hatte weder Zeit für Diskussionen noch Belehrungen, denn sie war auf dem Weg in den Speisesaal, um dort einer Gruppe aufmüpfiger Gäste zu zeigen, wo der Hammer hängt. Der Kaffee sei schon wieder so dünn, dass man auf den Boden der Tasse sehen könne.
»Warum glotzen Sie denn auch in die Tasse? Als gebe es dort irgendwas Interessantes zu sehen. Beschweren Sie sich doch bei Ihrer Krankenkasse, bei der Landesversicherungsanstalt. Wir müssen mit dem auskommen, was die uns für Sie zu geben bereit sind. Nachmittags wollen Sie doch auch wieder Kaffee. Und ein Stück Kuchen dazu.«
»Ja, ja, der Kuchen vom Vortag, den Sie der Bäckerei Strube für ein paar Groschen abkaufen. Wissen wir alles. Selbst der Zucker wird hier eingeteilt. Man sollte gerichtlich gegen Sie vorgehen, Sie Blutsaugerin!«
»Viel Zucker ist gerade für Menschen in Ihrem Alter Gift. Sie sind ja schließlich zur Kur hier. Und was heißt hier Blutsaugerin? Das sind ja DDR-Parolen! Mein Mann und ich
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