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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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sie, dass ihr künftiger Weg von dieser Zeitung bestimmt werden würde: ›Zimmermädchen für Hotel auf Sylt gesucht‹, ›Serviererin für Ausflugslokal im Harz dringend gesucht‹, ›Küchenhelferin für Landgasthof im Allgäu gesucht – Kost und Logis werden gestellt‹.
    »Meistens blieb ich für eine Saison, manchmal haute ich schon früher ab, aber länger als sechs Monate hielt ich es nirgendwo aus. In Bad Nauheim werde ich garantiert nicht mehr lange sein.«
    »Ja«, seufzte ich theatralisch, »es ist schwer, die Schmehles zu lieben. Und dabei wollen sie doch im Grunde nur Liebe.«
    »Oder ersatzweise Geld.«
    Im selben Moment trafen sich unsere Blicke, und wir brachen in Lachen aus. Ich konnte durch ihre Augen hindurchsehen, wurde ernst und fragte unvermittelt: »Warst du schon mal im Knast?«
    Sie zögerte, schaute mich prüfend an, kniff dabei die Augen ein wenig zusammen, sah sehr skeptisch aus. »Warum fragst du?« Sie schien in meinem Gesicht nach der Selbstgerechtigkeit zu forschen, die sich damals auf dem Gesicht ihres Vaters, auf den Gesichtern der Nachbarn, der Kunden von
Radio-Hirsekorn
, der Cousins und Cousinen und der ehemaligen Freunde ausgebreitet hatte wie Pusteln, wie Schuppen – Manifestation einer allergischen Reaktion auf Außenseiter, auf Andersdenkende. Offenbar war sie mit meinem Gesicht zufrieden – und vielleicht hatte sie auch den Hoffnungsschimmer darin entdeckt.
    »Ja, okay«, sagte sie schulterzuckend und mit schiefem Lächeln, »ich war im Knast – wie jeder anständige Mensch. Scheißerfahrung – aber …«, sie dachte kurz nach, »… eine Erfahrung, die ich, im Nachhinein besehen, nicht missen möchte. Von heute auf morgen aus der knallbunten Freiheit herausgerissen und in eine Zelle gesperrt zu werden, hinter Mauern zu verschwinden, bewacht von Uniformierten, nachts beleuchtet der Scheinwerfer – der Knastmond – bleich deine triste Unterkunft, der Tag besteht aus Monotonie, und man ist eingezwängt in einem engen Korsett aus Regeln, das einem die Luft abschnürt, und wenn du großes Pech hast, teilst du deine Zelle mit einer frisch vom Entzug gekommenen Fixerin und einer Schnarcherin. Ja, ich war im Knast.« Sie sah mich mit einem Denk-von-mir-was-du-willst-Blick an. »Mein damaliger Freund dealte mit Shit, ich half ihm dabei – war ja in meinen Augen völlig legitim. Das war 1970. Ich war neunundzwanzig und die Älteste in der WG – sozusagen die Mutter der Kommune.« Sie kicherte mädchenhaft. »Jedenfalls eine schöne Zeit. Wir hatten immer Kohle, kauften uns eine geile Stereo-Anlage, jede Menge LPs, überall lagen Flokatis. Die Bullen stürmten die Wohnung in dem Moment, in dem mein Freund eine Disko-Kugel an der Decke befestigen wollte. Er hatte schon lange von so einer Kugel – du weißt, was ich meine? – geträumt, hatte sich vorgestellt, wie sie, sich drehend, das Licht der Kerzen auf die Wände und auf die Decke werfen, zu fließenden Mustern verwandeln würde. Na ja, sie fanden drei Kilo Shit, beste Ware, Roter Libanese, völlig rein. Schade um den geilen Stoff.«
    »Du rauchst so was?«, fragte ich überflüssigerweise. »Ich hab das mal probiert. Weil meine Freundin so’n Hippie-Mädchen war, wie du wahrscheinlich. Ist nicht mein Ding. Ich steh auf Bourbon.«
    Sie deutete auf mein Glas. »Verstehe. Deshalb hast du dir Bier bestellt.«
    Ihre verhaltene Ironie gefiel mir. »Ist ’ne Geldfrage«, sagte ich – und dann: »Du bist 1970 eingesperrt worden? Genau wie ich. Nur dass ich schon zuvor gesessen und diesmal die große Kelle abgekriegt hatte. Sieben Jahre. Soll ich dir meine Geschichte erzählen?«
    Natürlich sollte ich. Ein 31-Jähriger, der in einem Scheißzimmer wohnte und komische, zu große Klamotten im 50er-Jahre-Stil trug, dessen Habseligkeiten in einen einzigen Koffer passten, hatte garantiert was zu erzählen. Als ich anfing, lief gerade
Rock And Roll Never Forgets
von Bob Seger.
    Und Doris staunte in der Tat; sie beugte sich ein wenig zu mir herüber – vielleicht, um unbedingt jedes Wort mitzukriegen, vielleicht aber auch konspirativ, ein noch vages Gemeinsamkeitsempfinden signalisierend – zwei Verlorene, die sich gefunden hatten und nun, unter der nachgemachten Tiffany-Lampe über ihren Köpfen, eine Einheit bildeten, abgeschirmt von den übrigen Gästen, deren Lebensläufe vermutlich sauber und langweilig schienen, so sauber und langweilig wie ihr Äußeres. Unsere Hände krabbelten auf der Tischplatte aufeinander zu,

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