Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
offen ins Gesicht. »Nein, ach was, um Gottes willen, Chef, ich bin weder Wühler noch Maulwurf noch Mitglied in einer staatsfeindlichen Organisation.«
»Wenn Sie’s wären, würden Sie mir genau dasselbe sagen.«
Mürrisch machte sich der Chef an den Schweinebauch, angewidert kochte ich die Suppe, zwinkernd gesellte sich kurz darauf Doris dazu und schälte die Kartoffeln.
Die nette Kneipe, von der Doris erzählt hatte, lag gleich um die Ecke. Nostalgie-Stil, wie er Anfang der 70er Jahre in den Szene-Kneipen der Großstädte aufgekommen war, mit alten, lederbezogenen Kneipenbänken, die Stühle, Tische, Lampen und Bilder aus ehemals guten Stuben. Die dafür typische Gästemischung aus Oberschülern, Studenten, 68ern, Künstlern und progressiven Angestellten. Musik vom Band, ein breites Spektrum von Blues und Rock und Reggae bis hin zu Jazz, Chansons und Fado. Doris trank Weißwein – Frascati. Ich hielt mich an Pils vom Fass. Doris trug T-Shirt und Jeans, ich fühlte mich ohne Fred in Freds 50er-Jahre-Outfit wieder einmal als Außenseiter. Früher hatte ich mich in meiner Außenseiterrolle ja geradezu gesuhlt, aber mittlerweile wollte ich irgendwo dazugehören.
»Das ist nicht die Kleidung, auf die ich abfahre«, sagte ich entschuldigend, »aber ich hatte keine große Wahl.«
Wie erhofft, winkte sie lässig ab, schenkte mir ein Lächeln, das vorwiegend aus Sympathie und Verständnis bestand. »Ich bin oft genug in den falschen Klamotten rumgelaufen«, sagte sie abgeklärt. »Das bedeutet gar nichts.«
Nach der ersten halben Stunde, in der wir hauptsächlich unsere Unsicherheit zu überspielen versuchten, wurden wir allmählich lockerer, stellten fest, dass jeder von uns wirklich etwas zu erzählen hatte, dass jeder von uns dem anderen aufmerksam zuhörte. Wir verschanzten uns nicht hinter Posen – und nach dem dritten Wein und dem vierten Bier sind wir uns schon ganz schön nah gekommen.
Doris war 37, also einige Jahre älter als ich, aufgewachsen in dem hübschen, aber verschlafenen Städtchen Lohr am Main, hatte die Realschule besucht und danach eine Lehre als Einzelhandelskauffrau im elterlichen Betrieb, einem Radio- und Fernsehgeräte-Geschäft, angefangen. Mit achtzehn hatte sie die Schnauze vollgehabt – von den Eltern, den Fernsehgeräten, den Freunden, die so spießig waren wie die Eltern. Sie trampte nach Paris, um die dortige Boheme, die Jazz-Clubs und den Existentialismus hautnah kennenzulernen. Am linken Seine-Ufer glaubte sie, das Paradies gefunden zu haben, doch die Polizei griff sie nach drei Monaten auf. Sie wurde abgeschoben und in Lohr von den Eltern eingehend verhört. Die Fragen aus dem freudlosen Mund des Vaters beantwortete sie, mittlerweile vom Virus der Freiheitsliebe befallen, mit einer Unbekümmertheit, die den Alten wie ein Frontalangriff auf ihre Wertvorstellungen vorkam. Ihre Tochter hatte sich offenbar drei Monate lang in einem Sündenpfuhl gewälzt, war natürlich entjungfert worden, rauchte, trank Alkohol, hörte Negermusik, trug hautenge schwarze Rollkragenpullis, hautenge schwarze Hosen, war in der ganzen Zeit nicht einmal beim Frisör gewesen, trug einen Pony und erlaubte sich – als hätte der Teufel persönlich ihr das eingeflüstert – schwarze Wimpern, schwarze Augenlider, rote Fingernägel, fand auf einmal die CDU beschissen und war – um das Maß voll zu machen – Atheistin geworden. Abschaum, diese Tochter! Als sie einige Wochen später abermals verschwand, waren die Eltern vermutlich sogar erleichtert. Das Paradies fand sie allerdings nirgendwo, obwohl sie auf der Suche danach durch zahllose Städte und mehrere Länder streifte. Wilde, ruhelose Jahre, vollgestopft mit schönen Erlebnissen und düsteren Erfahrungen. Es gab zwar Phasen, in denen sie wochenlang oder gar monatelang nicht arbeitete, in ihrer Hippie-Zeit, aber normalerweise scheute sie keine Arbeit. Irgendwann bewarb sie sich um einen Job als Bedienung in einem Ausflugslokal. Ein Knochenjob, doch er lag ihr; sie merkte schon nach den ersten Tagen, dass sie die ihr zugewiesenen Tische souverän überblicken und bedienen konnte und die Gäste zu nehmen wusste. Das Gaststättengewerbe gefiel ihr schon deshalb, weil ein großer Teil der dort Beschäftigten aus Vagabunden bestand, die wie sie unruhig umherzogen, unfähig oder noch nicht bereit zur Sesshaftigkeit. Sie kaufte sich eine Ausgabe der
Allgemeinen Hotel- und Gaststättenzeitung
, studierte die Stellenanzeigen – und in diesem Moment wusste
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