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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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dahin reisen können, da er nur einen Personalausweis besessen hatte. Nein, verdammt noch mal, er hatte sich umgebracht, war auf den Adolfturm der Friedberger Burg gestiegen, hatte sein Gepäck einfach unten abgestellt, war hochgestiegen und dann gesprungen.
    »So viel Mut hatte ich ihm gar nicht zugetraut«, hatte ich, unbeholfen und erschüttert, einige Male gestammelt. »Er kann doch nicht einfach so gehen.«
    »Wie einsam muss er sich gefühlt haben«, hatte Doris, quasi durch mich hindurchsehend, gesagt.
    Als sie abgereist war, hatte ich, ratlos und verloren, mit dem Gedanken gespielt, ihr nachzureisen, mir auch in Bad Harzburg einen Job zu suchen, nicht gerade im selben Hotel, denn das wäre ihr sicher sehr unangenehm gewesen, das war mir klar. Alles Quatsch, hatte dann schnell die andere Stimme in mir gerufen. Nie mehr in einer Küche stehen und schlechtes Essen kochen – hatte ich mir das nicht geschworen? Doch, hatte ich; und die Aussicht, Doris öfter über den Weg zu laufen und dabei gegen ihren Panzer zu prallen, war mir alles andere als verlockend erschienen. Diese Begegnungen hätte ich nicht ertragen.
    Nun stellte sich allerdings für mich die Frage, ob ich den Winter in diesem Mansardenzimmer ertragen würde. Nun ja, ich könnte singen, meine Stimme trainieren, Blues natürlich, den
Schlachthof Blues
, den
Beschissener Winter Blues
oder den
Weltuntergangs Blues
, warum nicht, nur reichte das bei weitem nicht zum Überwintern in diesem tristen Turm.
    Warum ich mir Hamburg als vorläufiges Ziel ausgesucht hatte, war mir selbst ein Rätsel. Auf der Bewusstseinsebene fand ich nicht den geringsten Hinweis für den Grund meiner offenbar rein gefühlsmäßig erfolgten Wahl. Hamburg, na gut, nicht schlechter und nicht besser als jede andere Großstadt. Überall dieselbe Tristesse. Mit Geli, die sich mein Vermögen unter den Nagel gerissen hatte – anfangs womöglich zögernd, von Gewissensbissen geplagt, was weiß ich, war ja eh scheißegal –, also mit Geli hatte das jedenfalls nichts zu tun. Vielleicht hatten diese Rocker-Typen den Stein ins Rollen gebracht, waren wohl in dreckiges Lachen ausgebrochen, als sie erfahren hatten, dass diese Frau die Beute eines zu sieben Jahren Knast verurteilten Bankräubers für den Arsch aufbewahren wollte, hatten sie weichgekocht, das Gift ihrer verkommenen, vulgären Philosophie in Gelis Hirn geträufelt … Aber wie auch immer: Ich lag auf dem Bett und holte mir einen runter, dachte dabei sowohl an Geli als auch an Doris, sah beide nackt vor mir, die schmale, fast knabenhafte Geli, die kleine Doris mit dem breiten Becken und den großen Titten, erinnerte mich sogar an ihre unterschiedlichen Arten des Stöhnens, Keuchens, Kommens – und als es mir kam, war es, als hätte ich mit beiden gleichzeitig Sex gehabt, schnellen Sex, ohne Zärtlichkeit, ohne Musik, ach ja – und verdammt, warum lief währenddessen der Kassettenrekorder nicht? Warum hatte ich nicht wenigstens dabei gesungen? Wahrscheinlich weil man normalerweise beim Wichsen nicht singt.
    Das hässliche Grau der Wintertage drang in mich hinein und schien mein Gehirn peu à peu zu zersetzen. Ich sehnte jeden Tag die Nacht herbei. Als wäre die Nacht eine schützende Höhle, in der ich mich verkriechen könnte.
    An diesem Abend duschte ich verschwenderisch lange, föhnte die Haare, zog Jeans, Sweatshirt, Boots und Lederjacke an, musterte mich in dem fleckigen Spiegel und fand mich ganz akzeptabel. Haare zu kurz, keine Frage. In diesem Viertel trugen nur die Türken, die Afrikaner und die übriggebliebenen deutschen Proletarier kurze Haare. Das heißt, neuerdings tauchten vermehrt skurrile Gestalten auf, die es supergeil fanden, in zerrissenen Klamotten rumzulaufen, Sicherheitsnadeln durch ihre Ohrläppchen und Lippen zu stechen, sich mit Ketten zu beschweren, sich die Köpfe zum Teil kahl zu scheren und nur ein paar aufwendig mittels Bier oder Leim oder was weiß ich aufgerichtete, knallrot oder grün gefärbte Haarbüschel stehen zu lassen. Punker. Zu den optischen Erkennungsmerkmalen, die trotz ihrer aufwändigen Hässlichkeit eine kindliche Ernsthaftigkeit ausstrahlten, gesellte sich, und das war wohl Pflicht, eine Form von Rüpelhaftigkeit, die mich schon deshalb anwiderte, weil sie so theatralisch dargeboten wurde. Vom dürftigen philosophischen Fundament ganz zu schweigen.
Null Bock
. Na schön, meinetwegen.
No Future
. Ansichtssache.
Fuck Jesus
. Wenn’s hinhaut. Aber alles ziemlich platt. Die Musik:

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