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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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eine barbarische Ferkelei. Dieses wüste Geschrammel passte natürlich zum derben Habitus. Nur keine Feinheiten, Kunst war eh scheiße. Alles war scheiße. Eine Weltanschauung, die auf eine intellektuelle Sichtweise buchstäblich kotzte, stieß mich von jeher ab. Scheiß auf die Punker, dachte ich überheblich, obwohl ihr Erscheinen das Straßenbild zweifellos bereicherte.
    Und nun Frost. Der Schneematsch war gefroren, überall stolperte man über die hartgewordenen schmutziggrauen oder kackbraunen Hügel. Eisiger Wind, wohl von der Elbe her.
    Ich schlug den Kragen hoch, huschte gebeugt, als würde diese Haltung der Kälte einen Teil ihrer Wirkung nehmen, an den Hauswänden entlang und war dennoch dem Wind ausgesetzt, hatte es allerdings auch nicht weit. In der Susannenstraße, die so grau war wie alle Straßen im Viertel, betrat ich eine dieser Kneipen der aussterbenden Art.
    Hier hatte noch nie ein Innenarchitekt sein Können beweisen dürfen. Das übliche Kneipenmobiliar, so verwittert und abgenutzt wie der Wirt und die Gäste, der Wandschmuck bestand aus unzähligen vom Tabakrauch gebräunten Teddybären, aus verstaubten Lebkuchenherzen mit den üblichen Sprüchen aus Zuckerguss, über dem Tresen hing eine Tafel mit der trotzigen oder gar drohenden Aufschrift ›Hier wird noch DEUTSCH gekocht!‹, die Musikbox, ein amerikanisches Fabrikat, barg ausnahmslos deutsche Schlager der schrecklichsten Sorte.
    Meiner Ansicht nach waren Zigarettenqualm und Biergeruch nicht etwa lästige, sondern unverzichtbare Bestandteile der Kneipenluft und gehörten für mich seit der Kindheit ganz automatisch zu Gaststätten jeglicher Art. Dennoch fand ich den Anblick, der sich mir hier bot, auf groteske Weise extrem: Jeder der Anwesenden, inklusive Wirt und Wirtin, hielt eine Zigarette in der einen und ein Bier- oder Schnapsglas in der anderen Hand. Es hatte etwas von einem religiösen Ritual an sich – und dazu passte das Lied, das gerade aus der Musikbox dröhnte, perfekt:
Ich weine in mein Bier
, ein mir sogar bekanntes Stück von einem Belgier namens Bobbejaan.
    Als ich mich in den Raum schob, starrten alle, teils mehr, teils weniger aufnahmefähig, auf mich, den Fremden – zuerst vielleicht in der Hoffnung auf einen weiteren Angehörigen ihrer aussterbenden Art, dann sichtlich enttäuscht und echsenhaft misstrauisch, schließlich – so kam es mir vor – mit dem Interesse von Sezierern, die emotionslos das Verhalten eines Fremdkörpers in einem intakten Organismus studieren.
    Ich grüßte laut, was schon mal positiv bewertet wurde, und wagte es dann, mich umzusehen. Ein Ort des Grauens, eine Ansammlung verlorener Seelen. Na ja, ich hatte zwar so was Ähnliches erwartet, aber mit einer solchen Verdichtung von Dumpfheit hatte ich nicht gerechnet. Hier wurde offenbar Abend für Abend der Weltuntergang erwartet und vielleicht sogar, weil man aus Ekel vor sich selbst der ganzen Scheiße überdrüssig war, ersehnt. Auf allen Stühlen und Hockern verblödete Säufer, denen die Unwissenheit ordinär aus den Augen grellte. Das Durchschnittsalter in diesem obszönen, säuerlich riechenden Gruselkabinett schätzte ich auf um die fünfzig, aber nur weil ein paar richtig junge Menschen beiderlei Geschlechts, die nicht minder abgefuckt waren und somit eindeutig dazugehörten, die Zahl stark nach unten drückten. Befremdet sah ich mich umzingelt von hektischer, zwanghafter Heiterkeit, die nur vom Alkohol und einer selbstauferlegten Pflicht zur Heiterkeit getragen wurde, und tatsächlich nichts weiter als ein hilfloser Ausdruck der Verzweiflung war. Einige schunkelten zur Musik und sangen oder brüllten den Text gewohnheitsmäßig mit, einer schob pausenlos Groschen in den Daddelkasten, am Tresen diskutierten fette Männer mittleren Alters gleichzeitig über die politische Lage und die momentane Situation des HSV.
    »Dass der HSV im September gegen Sankt Pauli verloren hat«, regte sich einer auf, »muss doch Konsequenzen haben, verdammte Kacke. Aber keiner aus dem Scheißvorstand nimmt seinen Hut. Alle an die Wand stellen, sag ich, den gesamten HSV-Vorstand – und die Terroristen sowieso, scheiß auf die Humanitätsduselei oder wie das heißt. Irgendwann ist das Maß voll! An die Wand, Maschinenpistole, ratatata, fertig! Wir können uns doch von denen nicht verarschen lassen!«
    »Da hassu verdammt noch mal Recht«, lallte sein Nachbar und stieß im Rhythmus der Silben den Zeigefinger bedeutungsschwer in die verqualmte Luft. »Und genau

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