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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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man müsse sich nur bemühen. Oh ja, zu solchen Illusionen war ich fähig gewesen, denn in diesen Momenten hatte ich Kind sein dürfen, hatte ich das Harte, Abgebrühte kurz verdrängen können. In der Freiheit angekommen, hatte ich mich tatsächlich mit aller Kraft bemüht, aber offenbar alles falsch gemacht – vielleicht weil ich keine konkrete Vorstellung hatte von dem, was falsch und richtig ist. Oder vielleicht glaubte ich einfach nicht, dass es, objektiv gesehen, eine strikte, eindeutige Trennung zwischen Gut und Böse gibt.
    Da ich kurz zuvor leichtsinnigerweise den behaarten Teil meines Kopfes einem Friseur zwecks Verschönerung anvertraut hatte – mein Vertrauen war natürlich missbraucht worden, aber das hätte ich mir denken können – und recht bürgerlich gekleidet war, hatte der Makler keine Bedenken gehabt, mir auch Zimmer in besseren Gegenden anzubieten, aber nach einem Rundgang durchs Schanzenviertel im Norden von St. Pauli war mir klar gewesen, dass ich hier wohnen wollte. Warum, hätte ich nicht mal zu sagen vermocht. Vielleicht zur abermaligen Anreicherung meines Selbstmitleids. Vielleicht hatte es an der Mischung aus Resignation und Aufbruchstimmung in den schmuddeligen Straßen und Häusern gelegen, an dem Gegensatz von muffigen, im Gestern hängengebliebenen Läden und Lokalen für die deutsche Urbevölkerung und den wie Pilze aus dem Boden schießenden neuen Läden und Kneipen der zugewanderten Türken und Alternativen. Unglaublich viele Ausländer. Nicht nur Türken. Auch Griechen, Jugoslawen, Pakistanis, sogar Schwarze. Vor sieben Jahren sei das hier noch ein deutsches Arbeiterviertel gewesen, hatte mir ein verbitterter deutscher Arbeiter am Tresen einer der letzten deutschen Arbeiterkneipen erzählt. Und zudem strömten immer mehr von diesen Hippies, diesen Alternativen, hierher, hatte er angewidert geklagt, die seien scharf auf die billigen Wohnungen und Läden, eröffneten Second-Hand-Läden, Plattenläden, Geschäfte mit komischen Klamotten, mit Wasserpfeifen, bescheuerten Büchern und so weiter und diese »beknackten Traumtänzer«, wie er sie nannte, laberten nächtelang in Griechenkneipen über die Abschaffung des kapitalistischen Systems. Er hatte allerdings, weil stockbesoffen, »des kapilissischen Stems« gesagt, aber ich hatte ihn dennoch verstanden. Ich hatte auch sehr schnell mitgekriegt, dass die Mehrheit in dieser Kneipe aus alkoholabhängigen Deutschen bestand, die beschissene Jobs hatten, Rentner oder arbeitslos waren oder es geschafft hatten, schon in relativ jungen Jahren Frührentner zu werden. Zwei der Stammgäste waren, das muss man der Fairness halber erwähnen, Ausländer: ein grauhaariger Däne, der sich rühmte, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, und ein alkoholkranker Inder, der zum Gaudium der Germanen den Idioten spielte, Scherze auf seine Kosten grinsend wegsteckte und dafür mit Korn und Bier belohnt wurde.
    Ich hatte ein Scheißgefühl in dem Dreckloch, ekelte mich vor dem Geruch und den Augen dieser Leute, aus allen Körperöffnungen quoll der Gestank von Unwissenheit, Verlorenheit, Hass und Lethargie. Warum ich diese und ähnliche Kaschemmen dennoch hier und da besuchte, konnte ich mir überhaupt nicht erklären. Mit dem Masochismus hatte ich noch nie kokettiert. Um mir in solchen Kloaken ein vielleicht lebensnotwendiges Überlegenheitsgefühl quasi injizieren zu können? Die rettende Dosis Selbstachtung angesichts dieser im Alkohol und in ihrer Perspektivlosigkeit Ertrinkenden?
    Ich besaß zwei prallgefüllte Koffer, einige Tausend Mark und einen 58er Buick Limited Riviera, der in diesem Viertel enorm misstrauisch beäugt wurde, für den es in nächster Nähe keinen Parkplatz gab, und hatte den Ort, der mein Zuhause gewesen war, verloren.
    Doris, seit der Bauernheim-Aktion ohnehin wortkarg, hatte kurz nach Freds Abreise still ihre Sachen gepackt, aber mir immerhin ihre neue Adresse aufgeschrieben, ein Hotel in Bad Harzburg.
    »Also wieder Zimmermädchen oder so was?«, hatte ich, Enttäuschung und vielleicht auch Häme in die Stimme mischend, gefragt.
    Achselzuckend und ohne mich anzusehen hatte sie geantwortet, vor allen Dingen müsse sie mit sich alleine sein, die Art der Arbeit, die Bezahlung, der Ort, all das sei momentan unwichtig.
    Die Sache mit Fred war uns unter die Haut gegangen – tief unter die Haut, bis ins Knochenmark. Es hatte – ich hätt’s mir denken können! – keine Einladung in die Emirate gegeben. Er hätte auch gar nicht

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