Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
ausgewalzt, war aber auch den großen Blättern einige Zeilen wert, und die Boulevard-Gazetten hatten sich darauf niedergelassen wie Geier auf einem Kadaver:
Der Irre hat wieder zugeschlagen! – Welches Geheimnis verbirgt sich in Bauernheim? – Ganz Bauernheim in Angst und Schrecken! – Rätselhafte Anschlagserie auf Bauernheimer Bürger! Friedberger Polizei tappt völlig im Dunkeln!
Am Abend in der
Hessenschau
die Bilder vom zerstörten Haus. Ein Feuerwehrmann sagte ins hingehaltene Mikrofon, das Gebäude sei nicht mehr zu retten. Bilder vom Muldenkipper und vom MAN. Verwirrte Bauernheimer stammelten Blödsinn wie RAF-Terror, zu viele Ausländer, Untergang des Abendlandes und Strafe Gottes in zwanzig Mikrofone, der Polizeichef baute sich, den Clint-Eastwood-Blick stümperhaft imitierend, vor den Kameras auf und tremolierte, an den oder die Täter gerichtet: »Wir werden euch finden, wo immer ihr euch auch versteckt!« Allerdings musste er kleinlaut gestehen, dass es noch keine brauchbaren Spuren gab.
Nach diesem Eingeständnis atmeten wir gemeinsam auf. Zumindest diese Gemeinsamkeit gab es noch zwischen uns. Die Witwe Pfaff tat mir unendlich leid. Ich schämte mich vor mir selbst, etwas derart Monströses getan zu haben. Das war weder mit Gefängnistrauma noch mit verkorkster Kindheit zu entschuldigen.
Scheißkälte. Der erste Schnee hatte sich auf Hausund Autodächern niedergelassen, um jedoch gleich wieder zu schmelzen, die Welt war grau, kalt und nass. Weihnachtsdekor umrahmte scheinbar bedeutungsschwer die Konsumartikel in den Schaufenstern, Kinder standen großäugig davor, mussten von den Eltern gewaltsam weggezerrt werden und forderten schreiend, vom Virus der Revolution befallen, die Vorverlegung des Heiligen Abends. In den Geschäften an der Kaiserstraße hoffte man auf fette Umsätze.
Kühle Atmosphäre in unserer Wohnung. Jeder beschäftigte sich mit sich selbst. Vorbei die Zeiten der innigen, wärmenden Freundschaft, vorbei das Gemeinschaftsgefühl, verweht die Zukunftspläne.
Sex war sowieso gestrichen, logisch, denn es gab ja keine Berührungspunkte mehr. So viele stille Fragen – und dann der neuerdings andere, kritische Blick auf die Freunde, auf ihr Verhalten, ihre Mängel. Jeder von uns hatte sich in einer eisernen Rüstung verkrochen. Jeder von uns war mit sich allein.
Ein paar Tage später verkündete Fred scheinbar locker, mit aufgesetzt fröhlicher Miene, er werde Deutschland umgehend verlassen. Abdullah hätte ihn eingeladen, bei ihm zu wohnen, in einem eigenen Haus mit Swimmingpool. Hier sei es ihm entschieden zu kalt – in jeder Hinsicht.
»Aber du kannst doch nicht einfach …«, sagte ich erschrocken. Doch schon während ich das sagte, war mir klar, dass er das natürlich konnte.
F ROSTIGE Z EIT, GEMISCHT MIT B LUES
Wenigstens ein Pluspunkt: Der Heizkörper strahlte massenhaft Hitze aus. Na ja, und ein eigenes, wenn auch von Schimmelpilzen bewohntes und entsprechend modrig riechendes Badezimmer. Ein kleiner Flur, in dem, flankiert von Kleiderhaken, ein fleckiger Spiegel hing. Das Bad, ein Zimmer. Fast schon eine Wohnung. Sonst gab es leider nichts Positives über die Masarde zu berichten – es sei denn, der Blick aus dem Gaubenfenster auf den Schlachthof würde dem Betrachter, aus welchem beschissenen Grund auch immer, gefallen.
Mich jedenfalls machte der Anblick verängstigter Tiere und hartgesottener Schlachter mit blutbefleckten Schürzen, der Geruch von Kot, Urin und Blut, das Brüllen der Rinder, das Quieken der Schweine traurig. Aber traurig war ich ja ohnehin – und außerdem passte ja doch alles irgendwie zusammen: schäbiges Mansardenzimmer mit Blick auf den Schlachthof, heruntergekommenes Viertel, Schneematsch mit Hundescheiße, wüste Kaschemmen, aus der Wohnung unter mir türkische Musik und der Geruch von Kreuzkümmel, Hammelfleisch und Knoblauch, Blues aus meinem Kassettenrekorder, dazu Whiskey und Lucky Strike. Überdies natürlich zentnerweise dunkle Gedanken und Gefühle – ein undurchdringliches Dickicht aus Einsamkeit, Ratlosigkeit, Angst, zielloser Wut und Trauer. Eigentlich war ich nichts weiter als ein trauriger Trinker, einer aus dem Millionenheer der traurigen Trinker, die vor allem traurig waren, weil sie in ihrem Selbstmitleid badeten.
Im Knast hatte ich mich eine Zeitlang in der Illusion verkrochen, es gäbe in der Freiheit reichlich Möglichkeiten, die mit negativen Gefühlen gefüllten Löcher zu umgehen, wie man etwa Schlaglöcher umfährt,
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