Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
generell, also nicht nur irritierte Ureinwohner bestimmter, von Türken bevorzugter Viertel, in dieser Hinsicht eine harte Nuss zu knacken hatten. Ich war ja selbst irritiert und ein wenig beunruhigt. In dem Haus, in dem ich wohnte, befanden sich die Deutschen eindeutig in der Minderzahl. Außer mir gab es noch eine Wohngemeinschaft im ersten Stock. Drei Männer und eine Frau, allesamt Fixer, voll auf Heroin, total im Arsch, mit Grabsteinen in den Augen, hatten sich bei mir schon mehrfach alles Mögliche ausgeliehen – nichts von großem Wert, nur Kleinigkeiten wie Eier, Kaffee, unbespielte Kassetten, Kerzen, auch mal fünf Mark. Alles halb so wild, geschenkt. Dass sie mir diese Sachen jemals ersetzen oder zurückbringen würden, hatte ich nie in Betracht gezogen. Zuerst hatte ich angesichts dieser bettelnden Trauergestalten tatsächlich Mitleid verspürt, Ansatz eines Helfersyndroms. Bis ich begriff, dass meine Hilfsbereitschaft für sie so einladend war wie ein offenes Fenster für einen Einbrecher. Sie klingelten immer öfter bei mir, ihr Grinsen hing schief im Gesicht, und meistens lag schale Wehleidigkeit mit einem frech fordernden Unterton in den Stimmen. Ich schien für sie so was wie ein nützlicher Depp zu sein, der Kaffee-Verschenker, der Eier- und Esslöffel-Verteiler, der gute Mensch aus der Mansarde. Als ich einmal in ihrer verwahrlosten Bude gewesen war, hatte mich weniger der Dreck als vielmehr ihr rüder Umgangston angewidert. Von Freundschaft keine Spur! Nur eine Notgemeinschaft süchtiger, missmutiger und von Horrorerlebnissen gezeichneter Loser.
Die türkischen Frauen im Haus, die ich stets höflich grüßte, sprachen nicht mit mir. Durften sie wahrscheinlich nicht – waren eingeschnürt in ein enges Korsett aus religiösen Regeln und archaischen Ehrbegriffen. Die Männer hingegen zeigten sich mir gegenüber freundlich, sprachen aber überwiegend ein sehr eigenwilliges Deutsch. Na gut, ich meine, war verständlich, klar, die Leute kamen aus Anatolien und hatten mit Deutschen kaum Kontakt. Aber hier, sehr witzig, in dieser Scheißkneipe, sprachen diese abgefuckten deutschen Gäste, deren Primitivität mich seltsamerweise faszinierte, spätestens ab Mitternacht ebenfalls ein sehr eigenwilliges Deutsch, und vor allem streiften sie nicht etwa peu à peu, sondern zügig alle Hemmungen, jedes Schamgefühl und auch den Rest ihres Verstandes von sich ab. Emotionen brodelten, hier und da flammte Streit auf, an einem Tisch kämpften zwei ausgemergelte Säufer, anfangs verbal, dann allmählich ihre Hände und Füße einsetzend, um die Gunst einer blondierten Teigmasse, die sich, nach den Flecken auf ihrem Busen zu urteilen, heute schon mindestens einmal erbrochen hatte. Kurzzeitiges Knurren, Brüllen, Stühlerücken, blindes Boxen, Gläser zersplitterten, ein, zwei Schreie, aber ruckzuck war der Wirt zur Stelle, teilte ein paar Ohrfeigen aus, und damit war das Thema durch. In der Musikbox senkte sich der Tonarm auf die nächste Platte,
Ganz in Weiß
von Roy Black, ziemlich eklig, klang irgendwie bedrohlich, und die Gäste, wie in Trance, fingen wieder an zu singen, irgendwie rührend. Eine süßliche Stimme in meinem Kopf forderte mich zum Mitsingen auf, und um ein Haar wäre ich, fast so betrunken wie die anderen und zumindest mit dem Refrain vertraut, dieser Aufforderung gefolgt, hätte nicht der Magen, wie immer mein sensibelstes Organ, vernehmlich gegen eine solche Entwürdigung protestiert und Konvulsionen mit den entsprechenden Folgen angedroht. Schon gut, okay, verstanden, murmelte ich beschwichtigend und überdies ernüchtert meinem Magen zu, bezahlte und stürzte ins Freie, in die nasskalte Winterluft, taumelte aus dem Lichthof der Holsten-Edel-Werbung in Richtung Dunkelheit, keine Sekunde zu früh, denn schon platschte mein Mageninhalt aufs Pflaster. Erst das unangenehme Würgen, dann die Erleichterung. Guter alter Magen, hast alles richtig gemacht, mich gereinigt und befreit.
Doch dieses bis ins Mark dringende Frösteln war nicht nur die logische Auswirkung wintergemäßer Außentemperatur; es kam mir vor, als gäbe es in meinem Inneren, grob gesagt, zwischen Magen und Herz ein Eisfach. Nichts gegen Eisfächer, Gott bewahre, schon wegen der Eiswürf el nicht, aber auf der metaphorischen Ebene war das ziemlich bedrückend und mündete unweigerlich in die Freudlose-kalte-Welt-Perspektive. Fröstelnd erschauerte ich, sah natürlich Doris vor mir, sie war wieder einmal nackt, ihre Haut duftete nach
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