Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
dass sei eben kein Wald. In ihrer alten Heimat würde jetzt der Schnee schwer und weiß auf den Ästen der Tannenbäume ruhen. Aber hier gibt es nur in den Gärten Tannenbäume und in den Wohnzimmern welche mit Weihnachtsschmuck. Sonst besteht der Wald aus Laubbäumen. So viel verstehe ich von Bio.
Und trotzdem war es schön. Wir schlenderten durch einen kleinen Durchgang und waren im Nu an der Bahnlinie, neben der ein breiter Weg zu dem kleinen Fluss Luppe führt. Wir gingen vor uns hin, und Leo bettelte uns an, dass wir Stöcke schmeißen. Was wir auch machten.
Später sagte Ulli zu mir: »Darf ich dich auch mal besuchen?«
»Klar! Dann kannst du auch meine Schwestern kennen lernen.«
Jetzt kommt mal wieder jemand mit zu mir! Ich freue mich schon. Ob sie jetzt meine Freundin ist? So ein Schulstar passt gar nicht zu mir. Sie ist überall beliebt und mit jedem bekannt. Sie ist unsere Klassensprecherin und macht das wirklich gut. Außerdem sieht sie schon sehr weiblich aus. Sie schminkt sich auch. Ich konnte das in ihrem Badezimmer sehen, als ich mal aufs Klo gegangen bin. Das ist mir zwar immer peinlich. Ich denke, ob die Leute mich jetzt pinkeln hören können? Und dann lenk ich mich ab und suche die Regale ab, was da so rumsteht, denn neugierig bin ich auch. Und bei Ulli gab es eine Menge Zeug zum Schminken und Deo und Parfum. Mehr als bei meiner Mutter. Ich bin immer überrascht, wie anders es bei anderen Leuten ist. Ich würde ein anderes Zuhause gern mal ausprobieren. Ich stelle mir vor, ich könnte das Leben wie eine Filmrolle wechseln und wäre für einige Zeit Ulli. Wie das wohl wäre? Ist das Zufall, dass ich Tine bin? Sieht der Schnee, wenn ich durch Ullis Augen sehe, auch so aus, wie wenn ich durch meine gucke? Hat sie dieselben Gedanken? Warum kann ich nicht einfach mal in eine andere Haut schlüpfen? Dann hätte ich auch schon Brüste und müsste einen BH tragen.
9
Es liegt immer noch ein bisschen Schnee. Das sieht schön aus. Vom Fenster unseres Zimmers blicke ich auf die Kleingärten. Die kleinen Hüttchen und Verschläge wirken wie verschneites Spielzeug. Der Schnee hat Beulen, wo etwas unterm Schnee versteckt liegt.
Maria ist krank. Klar, das ist normal. Sie war eine Woche in der Krippe, und jetzt weint sie, weil sie Schnupfen hat. Carsten ist besorgt. Er überlegt, ob er einfach in den Erziehungsurlaub geht und sich um Maria kümmert.
»Aber wenn du jetzt aufhörst, brauchst du später erst gar nicht wieder anzufangen. Dann sind alle Aufträge weg«, hat meine Mutter abgewiegelt. »Maria muss da jetzt durch. Die Krippe ist wirklich nett, die anderen Kinder können nicht schaden. Und sie wird schon wieder gesund. Dann versuchen wir es noch einmal.«
Sie kann ganz schön energisch sein, meine Mutter. Aber Arbeit ist hier in Leipzig nicht gerade in Massen zu haben. Deshalb müssen Carsten und meine Mutter ranklotzen.
»Ich könnte ja auch mal zu Hause bleiben«, versuche ich, meine Hilfe anzubieten. Ich wäre ja froh, wenn ich einen Grund hätte, nicht mehr zur Schule gehen zu müssen.
Meine Mutter kommt aus dem Staunen nicht heraus. »Mit deinen Zensuren? Du bist wohl völlig übergeschnappt!«
Dabei sind meine Ergebnisse bei den letzten beiden Tests gar nicht so ultraschlecht gewesen. Ullis Erklärungstalent hat bei mir kleine, aber feine Früchte getragen. Ich bin ganz stolz und Ulli auch. Sie freut sich echt und ist manchmal so wie eine Glucke, die auf mich aufpassen muss. Obwohl mich das wundert, stört es mich nicht. Sie hat keine Geschwister, vielleicht ist sie deshalb so. Sie kommt zum Lernen öfter zu uns. Dann ist sie völlig verliebt in Maria und sitzt, wenn sie so lange bleiben darf, ganz aufgeregt bei uns am Abendbrottisch. Sie findet Carsten toll, hat sie mir verraten. Sie wird immer rot, wenn er sie anspricht. Das ist ziemlich blöd, aber sie kann wahrscheinlich nichts dagegen machen. Mir wäre nie im Traum eingefallen, dass eine Freundin für meinen Stiefvater schwärmen könnte. Hoffentlich kriegt Carsten das nicht mit. Er lässt sich jedenfalls nichts anmerken.
Meine Mutter freut sich, dass ich endlich mal ein Mädchen aus der Klasse mit nach Hause bringe. Das sehe ich ihr an. Sie will die Leute kennen, die Mella und mir wichtig sind. Ulli wird von ihr geradezu übertrieben freundlich behandelt. Macht sie das, weil sie ihr dankbar ist? Ulli – die Retterin der Versagerin? Na ja, ganz so klar ist das mit der Rettung noch nicht. Und obwohl es schön ist, mit Ulli
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