Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
wirkte wie ein kleines Tonstudio, obwohl zu viele andere technische Geräte vorhanden waren. Aber an einer Wand lehnte ein Kontrabass, mehrere elektrische Gitarren. Zwei blonde junge Männer, Zwillinge, mit kurz geschorenem Haar, in zerrissenen Jeans und T-Shirts. Beide hatte sich die Hosenbeine abgeschnitten. Sie saßen vor einem Mischpult, beschimpften sich und winkten uns herein. Sie unterbrachen ihren Streit nicht. Es ging um Frequenzen, Nulllinien, Sinuskurven, die festgelegt und aus irgendetwas herausgefiltert werden sollten. Plötzlich hielten beide inne und lachten, bezeichneten ihre vorangegangene Auseinandersetzung als totalen Blödsinn.
»Hör dir das an«, sagte der eine zu Wachse. »Wir haben einen neuen Anfang gebastelt. Wir starten voll durch, mit allem, was wir haben.«
Er wippte mit den Knien im Rhythmus, bevor die Musik begann. Ein Kind sang gegen eine gewaltige herabstürzende Geräuschkulisse an. Nach einer Weile erschloss sich mir eine Melodie.
»Das bin ich«, sagte Wachse. »Ich singe, und das ist meine Band. Ton macht den Ton, und Technik macht die Technik. So nennen sich die beiden: Ton und Technik.«
Sie ging zum Mischpult und regelte die Lautstärke herunter. Die beiden standen auf.
»Technik«, stellte sich der eine vor. Ich suchte etwas an ihm, das ich mir zur Unterscheidung merken könnte, und fand nichts.
»Ton«, sagte der andere und gab mir die Hand.
Wachse erklärte, ich sei der Sohn von William Godin. Grinsend sprachen sie mir ihr Beileid aus.
»Ihr wisst mehr über mich als ich selbst, was?«
Sie verkniffen sich das Grinsen und führten mir das neueste Ergebnis ihrer Arbeit vor. Ich wusste schon nicht mehr, wer Ton und wer Technik war. Einer legte die Finger an die Lippen, zählte rückwärts von fünf bis null.
»Damit Sie es nicht verpassen«, sagte er.
Aus zwei Lautsprechern tönte ein starkes Rauschen. Dann folgte etwas, das wie eine menschliche Stimme klang, etwa so, als würde jemand etwas sagen, ohne den Mund schließen zu können.
»Es klingt wie: Hier kann man gut Äpfel pflücken«, sagte einer von ihnen. Beide brachen in Lachen aus.
»Lass die Linie stehen und nimm die Null höher.«
»Was ist das?«, fragte ich.
»Wir scannen Gebirge ...«, begann einer, und der andere ergänzte: »... und setzen die Höhen und Tiefen in Höhen und Tiefen um. Das Grundrauschen, also die Erosion, und den Bewuchs haben wir hier schon rausgefiltert.«
»Wollen Sie die Alpensymphonie hören?«
»Wir haben sie dem Breitengrad folgend in einem Abstand von zehn Kilometern von Nord nach Süd umgesetzt. Die Wendepunkte sind natürlich willkürlich, will sagen, nach künstlerischen Gesichtspunkten gewählt. Es fängt etwas leise an. Wir beginnen in Zürich, auch reine Willkür, nähern uns dann aber sehr schnell dem Hochgebirge.«
Während mir der eine die Entstehung der Alpensymphonie erklärte, stöpselte der andere bereits Kabel um, legte eine CD ein und drehte an den Reglern. Sie waren aufeinander eingespielt, schmunzelten ähnlich, als sich erste elektronische Klänge aufbauten. Ich hatte den Eindruck, moderne Experimentalmusik zu hören.
Nach etwa einer halben Minute erschlafften ihre Gesichtszüge. Einer sagte: »Und so weiter und so weiter.«
Der andere ergänzte: »Und so weiter und so weiter.« Sie schalteten die Musik ab.
»Wenn es Sie interessiert, machen wir Ihnen eine Kopie.«
»Und das ist Ihre Arbeit im Auftrag von ...«
Sie lachten. »Musik ist bloß ein Abfallprodukt.«
»Wir wollen die Gebirge zum Sprechen bringen.«
»Hören Sie sich das an.«
Wieder wurde gestöpselt und geregelt. Eine Stimme sagte: »Hier sind immer Igel.« Die einzelnen Worte trennten sich kaum.
»Ein Gebirgszug in New Mexico, aus fünfundvierzig Grad gescannt, auf einer Linie in neunhundertachtzig Meter Höhe abgespielt. Und die Berge sprechen Deutsch.« Beide lachten. Die Aufnahme lief noch einmal ab und noch einmal.
»Eine Gegend, in der es garantiert keine Igel gibt. Wie haben uns persönlich davon überzeugt.«
»Aber was suchen Sie?«
»Nachrichten, die wir verstehen.«
»Und haben Sie schon welche gefunden?«
Sie schüttelten beide den Kopf. »Es liegt vielleicht daran, dass wir das falsche Aufnahmegerät haben, die falsche Geschwindigkeit beim Abspielen. In der falschen Sprache suchen.«
»Es liegt vielleicht daran«, fuhr der andere fort, »dass wir die falschen Ohren haben, das falsche Gehirn, überhaupt die Falschen sind.«
»Aber wenn Sie noch nie eine
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