Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Ihre Familie hat Ihnen alle Bösartigkeiten angetan, die er sich ausgedacht hatte. Sie hatten auch nie Freunde, jedenfalls keine, die nicht von William Godin dafür bezahlt wurden. Ihr Misstrauen verhinderte normale Partnerschaften. Keine Frauen. Er meinte, Sie besäßen eine sehr begrenzte Emotionalität.«
»Was ist das? Ein Plädoyer vor Gericht, um Strafminderung zu erwirken? Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Das war in etwa William Godins Bestandsaufnahme. Er empfand das als positiv. Es wäre eine Ihrer Qualitäten, die Dinge leidenschaftslos zu betrachten.«
»Und warum hat er das alles mit mir getan? Damit ich ihn kaltblütig umbringe?«
»Ich weiß es nicht. Er hatte ein Ziel. Aber ich kenne es nicht.«
»Bin ich so ...«
»... furchterregend? Ja.«
»Und war er so furchterregend?«
»Er erzählte, sein Leben sei voller unverzeihlicher Fehler, voller Jähzorn, Wut, Berechnung und Ungeduld gewesen. Liebe und Gewalt hätten dicht beieinandergelegen. Seine Offenheit machte ihn für mich sogar sympathisch. Mir gefiel das. Soviel ich weiß, hat er neben seiner Frau noch mit mindestens drei weiteren Frauen Kinder gezeugt, ohne sich Gedanken über diese Kinder und deren Erziehung zu machen. Er verheiratete die Frauen einfach mit seinen Söhnen. Und alle bekamen Geld dafür. Er bezahlte einfach alles. Scheckbuch raus. Wie viel soll es sein? Er würde niemals jemanden um Verzeihung bitten. Oder überhaupt um etwas bitten. Er bezahlte alles. Menschen, die sich nicht bezahlen ließen, wollte er nicht um sich haben. Er traute ihnen nicht.«
»Sind Sie deshalb bei ihm geblieben?«
Sie schwieg eine Weile, dann schnaufte sie. »Was glauben Sie eigentlich, wie ein Mensch wie ich lebt. Er muss für alles bezahlen. Alles ist Sonderanfertigung. Und schlimmer noch: Keiner will was von einem, keiner traut einem was zu. Wenn ich Zuneigung gebe, bekomme ich Erschrecken zurück. Liebe gibt es nicht, nicht mal gegen Bezahlung. Und wenn man dann jemanden trifft, der einem das scheinbar entgegenbringt, aber hinterher von ihm bezahlt wird, also erfährt, dass alles nur Lüge, Perversität, Berechnung war, dass man Teil eines Experimentes war ...«
»Sie hatten also auch ein Motiv, ihn umzubringen.«
Sie stand auf, ging langsam wieder zum Meer. Das Wasser war glatt, schwappte nur wie eine träge dunkle Soße auf den Sand.
Ich rief ihr nach: »Sie brauchen sich deshalb nicht gleich umzubringen!«
Sie drehte sich um. »Warum nicht?«
»Ein alter, perverser und bösartiger Mann!«
Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Ein Mensch, der ins Wasser gehen will, tut das nicht.
Ich erhob mich ebenfalls, klopfte mir den Sand ab und ging zu ihr. Das Licht der Laternen von der Strandpromenade beleuchtete ihr Gesicht. Es war nass unter den Augen.
»Sie sollten sich Ihre Haare länger wachsen lassen«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Doch, doch.«
»Dann wirke ich noch mehr wie ein Kind.«
»Wie Sie wollen.«
Auf der Promenade fuhr langsam ein Wagen entlang. Ein Scheinwerfer suchte den Strand ab. Er erreichte das Gegenteil, brachte kaum Licht, sondern hing den Strandkörben lange Schatten an, machte sie zu optimalen Verstecken.
»Das ist Petersen«, sagte Wachse. »Einer der letzten seiner Art. Manchmal denke ich, Polizisten sterben in dieser Gegend aus. Es müssten einfach mehr Verbrechen passieren, mehr Leute ermordet werden.«
Wir gingen zur Promenade hinauf. Der Scheinwerfer erfasste uns. Der Wagen hielt. Jemand stieg aus.
»Meinen Sie das ehrlich, das mit den Haaren?«, fragte Wachse.
»Ja.«
Es war ein Polizeiwagen. Petersen erwartete uns. Diesmal trug er Uniform.
»Ihr Vater macht sich Sorgen«, sagte er zu Wachse. »Außerdem muss ich Ihnen etwas zeigen, damit Sie es identifizieren.«
Er faltete ein Blatt auseinander. Es waren nur drei unvollständige Zeilen einer Handschrift zu sehen. Eine Fotokopie, der Rest war abgedeckt worden. Er hielt das Papier ins Scheinwerferlicht.
»Das ist William Godins Schrift«, sagte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Hundertprozentig«, sagte sie. »Was ist das?«
»Sein Abschiedsbrief.«
»Geben Sie her.« Ich hielt das Papier fest, er ließ es nicht los. Die drei Zeilen ergaben keinen Sinn.
»Ganz dumm sind wir bei der Polizei nicht«, sagte er. Ich ließ los, und Petersen zog das Blatt an sich, faltete es wieder zusammen.
»Aus dem Text geht eindeutig hervor, dass er seinen Freitod plante. Mit Datum von letzter Woche.«
Er wendete sich um, öffnete die
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