Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
Vom Netzwerk:
Hofinnere. Wachse zeigte in die Grube mit der braunen Brühe. Ein paar Blasen stiegen auf. Die Jauche machte die Luft dick und süß. Ich atmete flach.
    »Was hast du getan?«, fragte Scotty.
    »Ich schäme mich«, sagte Wachse. »Als ich zehn oder elf war und immer noch auf einem Kleinkinderfahrrad fuhr, während die meisten aus meiner Klasse bereits ein größeres Rad besaßen, da war ich oft hier. Ich stahl die Spielzeuge meiner Klassenkameraden. Ich erinnere mich vor allem an die langbeinigen Barbiepuppen. Ich radelte mit ihnen hierher. Mit einer Zange knipste ich ihnen die Beine ab, knüpfte ihnen mit Bindfäden kleine Steine um den Rumpf und versenkte sie hier. Die Beine sammelte ich in einem Stoffbeutel und legte ihn unter mein Kopfkissen.«
    Sie trat ein Stück vor, an den Rand der Grube. »Ich glaube, es liegt alles noch darin.«
    »Die Steintafel?«
    »Die nicht. Ich hätte sie in so einer Grube versenken können. Habe ich aber nicht. Wir stehen nur wegen unseres Verfolgers hier und sehen in die trübe Brühe. Mal sehen, was der macht, wenn wir ihm unser großes Interesse an so einer Jauchegrube zeigen.«
    In diesem Moment kam ein Wagen die Straße herauf. Als der Fahrer uns entdeckte, verlangsamte er die Geschwindigkeit. Durch die getönten Scheiben konnte ich niemanden darin erkennen.
    »So, das war er«, sagte Wachse. »Jetzt können wir zurückfahren.«
    »Wer war das?«, fragte ich.
    Wachse hob die Schultern. »Einer deiner lieben Verwandten hat einen Detektiv beauftragt, der dich beobachtet. Findest du das so ungewöhnlich?«
    »Wo ist die Tafel?«, fragte Scotty.
    »Ich ließ sie im Haus zurück. Sie liegt als Fußbank vor meinen Bett. Ich bin dreißig, und mein Leben ist immer noch sehr klein. Es gibt kaum etwas anderes in meinem Leben als Kleinsein. Ich dachte, wenn ich mich morgens daraufstelle, bin ich nicht nur größer, sondern auch mächtig.«
    Scotty beugte sich hinab und umarmte Wachse.

3
    Wir saßen auf Wachses Bettrand und schauten auf die Tafel hinab. Bei jeder Bewegung gewannen die Teddys hinter uns an Leben, stürzten sich kopfüber von den Kissen.
    »Ich kenne alle Schriften der Welt«, sagte Scotty. Sie fuhr mit der Fußspitze die Formen auf der Tafel entlang. »Diese kannte ich nicht, wenn es denn eine Schrift sein sollte. Schriften bestehen letztlich immer aus wiederkehrenden Elementen. Das hätte hier natürlich die Höhe der Zeichen sein können. Eine dreidimensionale Schrift. Warum nicht? William Godin hatte mich mit seinen Ideen angesteckt. So ein Unsinn!« Sie sprang auf. Mehrere Teddys hüpften mit ihr von der Bettkante. Wachse versuchte, sie aufzufangen.
    »Und dann hatte ich die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, die dritte Tafel an William Godin verkauft zu haben. Wenn man nur wenige Zeichen einer Schrift besitzt, muss man sie alle betrachten, um sie lesbar machen zu können. Wenn seine Theorie stimmte, hätte ich ihm die Tafel niemals überlassen dürfen. Aber ich konnte nicht anders. Er erpresste mich.«
    »Es ist vorbei.«
    »Nein. Ich will, dass du weißt, wie das angefangen hat.« Sie stampfte auf und verzog ihr Gesicht um die Nasenwurzel. Eine hilflose Art, durch Falten Wut auszudrücken. Es gelang ihr nicht.
    Wachse war ganz auf das Bett geklettert und versuchte, den kunstvollen Aufbau ihrer Teddypyramiden zu retten.
    »Ich traf ihn zum ersten Mal in Italien. Während meines Studiums half ich in den Semesterferien in Grumentum bei Ausgrabungen. Das ist eine römische Siedlung in der Basilikata. Wisst ihr, wo das liegt? In der Nähe des Klosters Padula, so ungefähr. Ach, kennt ihr auch nicht? Na, da unten im Süden. Ach, egal.«
    Sie lachte über uns, unsere fragenden Gesichter. Und für einen Moment wusste ich genau, wie sie damals ausgesehen hatte.
    »Hast du einen Strohhut getragen?«
    »Ja, woher weißt du das?«
    »Ich weiß es einfach.«
    Sie wandte sich ab, betrachtete mich von der Seite. Wachse hielt einen Teddy mit Strohhut hoch.
    »Erzähl weiter, lass dich nicht irritieren.«
    »Ihr nehmt mich nicht ernst.«
    »Doch.« Wachse ließ ihre Teddys sein und setzte sich neben mich.
    »Nun, William Godin stand plötzlich auf dem Grabungsgelände, interessierte sich sehr dafür und wusste genau, was wir da freilegten. Ich hielt ihn für einen Archäologen. Ja, ich war gerade mal zwanzig oder einundzwanzig, hatte keine Erfahrung. Er war sehr liebenswürdig, lud mich ein. Er beeindruckte mich.« Sie schwieg, hob einen Teddy in Pilotenmontur auf und reichte ihn

Weitere Kostenlose Bücher