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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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marschierte an ihr vorbei zum Badezimmer. Scotty setzte sich auf das Bett und erklärte Wachse die Sache mit meinem eingeschränkten Gefühlsleben.
    »Das weiß ich doch«, sagte Wachse. »Und er weiß es auch, also kann er es kontrollieren.«
    Ich ging ins Bad und hörte beide durch die geschlossene Tür über meine Erziehung diskutieren. Als ich wieder herauskam, war Wachse verschwunden.
    »Was war in dem Paket?«
    »Etwas, das es offiziell nicht gibt und das ich William Godin verkauft hatte.«
    »Die dritte Tafel.«
    Sie nickte.
    »Ich weiß jetzt, was die Zeichen darauf bedeuten.«
    Sie lächelte. »Du?«
    »Ja, es ist keine Schrift. Es ist eine verschlüsselte Botschaft.«
    »So weit waren wir im Institut auch schon.«
    »Ich denke, man muss einen Abguss machen. Dann werden die Zeichen zu Vertiefungen, zu schwarzen Formen. Was ich sagen will: Es sind Abbildungen von Schatten. Und Schatten sind wiederum Abbildungen von Bergen. Es sind Schatten, die von bestimmten Bergen zu bestimmten Zeiten geworfen werden. Sie weisen einen Weg. Und die Zeit spielt dabei auch eine Rolle. Ich glaube, diese Schatten gibt es heute noch. In einem bestimmten Gebirge. Ich behaupte einfach mal, es sind Wegweiser, oder eher Lagepläne – für was auch immer.«
    »Schatten?« Scotty warf sich ein Hemd über. »Schnell, wir müssen hinter Wachse her! Sie versenkt die dritte Platte gerade im Meer.«

2
    Wachse fuhr einen Mini. Es war noch das Modell mit den kleinen Reifen. Sie kam uns auf der Straße vom Jachthafen entgegen. Scotty stöhnte. »Sie hat es schon getan.«
    Ich ließ das Seitenfenster herunter und winkte. Wachse hielt an, stieg aus, und ihr Wagen gewann an Größe.
    »Wo ist die Platte?«, rief Scotty.
    Wachse überquerte die Straße.
    »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich habe nur ein kleines Boot, aber mit Satellitenortung GPS. Ich weiß also genau, auf welchem Längen- und Breitengrad ich die Tafel versenkt habe.«
    Sie grinste mit einem Mundwinkel und ergänzte: »In viertausend Meter Tiefe.«
    Sie betrachtete unsere Gesichter und schüttelte sich. »Je kleiner der Mensch, desto größer die Fantasie«, sagte sie. »Ist von mir.« Sie kletterte zu uns ins Auto. »Nun guckt nicht so. Ich führe euch hin.«
    Sie stellte sich hinter die Vordersitze und dirigierte uns auf schmalen und dünnen Asphaltbändern abseits der Hauptstraßen über die Felder. Ich fragte mich, warum William Godin gerade hier sein Quartier bezogen hatte, wo der Himmel größer war als die Erde. Und keine Berge, die doch immer Gegenstand seines Lebens waren. Möglicherweise war der letzte Wohnsitz Ausdruck seines Scheiterns. Und die Bezeichnung »Gesellschaft für geriatrische Psychiatrie« war Metapher für seinen Irrtum.
    Ihm waren Schatten immer nur Hilfsmittel zur Abbildung von Bergformen gewesen. Der Gedanke, dass sie einen eigenen Wert als Zeichen haben könnten, musste ihm aber auch schon gekommen sein. Doch Schatten waren komplizierter, veränderten mit dem Lauf der Sonne ihre Gestalt. Vielleicht konnte man sie ebenfalls auf bestimmte Grundformen reduzieren. Wenn es Computerprogramme gab, die von jedem Ding den Schatten berechnen konnten, dann gelang es mir vielleicht ... Gedanken, die von William Godin stammen könnten. Je mehr ich nicht sein wollte wie er, umso mehr wurde ich es. Meine Anstrengung, ihm zu entfliehen, hatte mich ihm nähergebracht.
    »Wo führst du uns hin?«, fragte Scotty.
    »Mein Gedanke war folgender«, sagte Wachse. »Wenn ich die Tafel im Meer versenke, könnte sie gefunden werden. Ein Zufall bringt sie wieder ans Licht. Wissenschaftler untersuchen sie, stellen dann die Verbindung zu den beiden Frankfurter Tafeln her, schließen daraus, dass das Volk der beiden Toten aus dem Frankfurter Grab auf seiner Wanderung auch die Ostsee erreicht hatte, die Lübecker Bucht. Und daraufhin entsteht ein neues Bild der Menschen von vor dreitausend Jahren, von ihrer Lebensweise, ihrer Verbreitung von Informationen, ihrer Einflussnahme. Eine einzige Veränderung heute, das Verschleppen eines Gegenstandes, verändert die Vergangenheit. Die Tafel ins Meer zu werfen wäre wie die Tat eines Zeitreisenden aus der Zukunft gewesen. Er käme zurück, und die Menschen, die er kannte, sind nicht mehr da. Ich war plötzlich Teil eines erschreckenden Science-Fiction-Films. Als wenn ich nicht schon genug Probleme mit der Gegenwart hätte.«
    Wachse ließ uns an einem Bauernhof anhalten. Sie führte uns zu einer Jauchegrube. Hühner flohen vor uns ins

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