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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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nur Abenteuerlust und nicht so sehr der Glaube an die Sache.
    William bevorzugte von den dreien keinen. Gordon, Frank und Frederik, jeder hatte seinem Alter und seinen Fähigkeiten entsprechend seinen Platz. William war gerecht, und er wollte ein guter Vater sein. Er war noch nicht so unmenschlich, wie du ihn kennengelernt hast.
    Er ahnte nicht, dass unter seinen Söhnen Konkurrenzneid herrschte. Jeder von ihnen wollte sein Liebling sein. Sie wogen jedes Wort ihres Vaters ab, wie viel Zuneigung es zum Ausdruck brachte. Jede Anweisung von ihm maßen sie als Zuwendung.
    Er hatte von einem Italiener eine Landkarte gekauft. Von einem, der mit allem handelte, aber nicht zu wissen schien, was er verkaufte. Ein kleiner unscheinbarer Berg weit im Süden, in Kalabrien. Doch die Karte stimmte so gar nicht mit den überall käuflichen Landkarten überein. Dies ist natürlich allgemein der Fall. Kartografen geben sich nicht sonderlich viel Mühe mit den Gebirgen, sie sind mit ihrer groben Form zufrieden. Eine Ausbuchtung, eine Spalte mehr oder weniger, wen sollte das kümmern, zumal die Erosion jeden Berg in seiner Gestalt ständig verändert. Oh, ich verstehe auch einiges davon. Damals gab es noch keine Satellitenfotos von jedem Teil der Erde und nur wenige Luftaufnahmen, die frei verfügbar waren. Die Länder hielten solche Fotos für kriegswichtige Geheimnisse. Wer sie besaß, konnte als Spion verhaftet werden. Und wer welche ohne Genehmigung anfertigen wollte, geriet schnell ins Visier der Militärs.
    Dieser kleine unzugängliche Gebirgszug und dessen verborgene Form, behauptete William, könnte der Schlüssel sein, die Erde neu lesbar zu machen. Nicht nur an dieser Stelle. Überall auf der Welt. Nun, das zu glauben ist eine andere Sache.
    Unsere Vorbereitungen dauerten lange. Er entschied sich für den Bau eines Ballons. Er sollte an einem langen Seil über dem Gebirge schweben, um es von dort oben zu fotografieren – die Geschichte von Karl Friedrich Godin und dessen Mongolfiere hatte ihn wohl angeregt, Karl Friedrichs Absturz hätte ihn aber warnen müssen.
    Wie eine fröhliche Familie auf Ferienreise fuhren wir in den Süden Italiens. Und ein bisschen waren wir es auch. Ein kleiner Bus mit Anhänger. Der zusammengelegte Ballon unterschied sich kaum von den Stoffen unserer Zelte. Auch unsere Gasflaschen, zum Aufblasen des Ballons, waren für Campingtouristen unverdächtig. Wir schlugen unser Lager am Meer auf. Wir badeten und unternahmen Ausflüge ins Binnenland. Es waren glückliche Tage. Die Kinder tobten herum. Wie konnte ich ahnen, dass sie sich umkreisten, darauf lauerten, dem anderen zu schaden?
    Den Gebirgszug fanden wir wie erwartet unzugänglich. Nur ein Aufstieg mit dem Ballon würde seine tatsächliche Form zeigen. Unsere Ausrüstung war bereit, wir warteten nur auf einen windstillen Tag. So weit es möglich war, stiegen wir ins Gebirge hinein. Und auf einer freien Bergkuppe wurde der Ballon betankt. Es gab keinen Korb, sondern eine Halterung, die wie eine Hose war. Ich hatte sie genäht. Der Ballon hing mit einem langen Seil an einer Winde, die im Boden verankert wurde. Frank und Frederik kümmerten sich als Bodenpersonal eifrig darum. Ich freute mich, sie so geschäftig und selbstbewusst zu sehen. Sie wollten alles richtig machen, um eines Tages auch so eine Aufgabe wie Gordon zu bekommen. So dachte ich wenigstens. Gordon als Ältester war der Pilot, sollte mit dem Ballon aufsteigen und Fotos machen. William wäre sicher gern selbst geflogen, aber er war zu schwer. Wir hätten einen wesentlich größeren Ballon gebraucht. Gordon stieg in die aus grobem Leinen genähte Hose. Das war wirklich eine geniale Erfindung von mir, sie war leichter als ein Korb und ermöglichte Bewegungsfreiheit, ohne dass man sich festhalten musste. Den Fotoapparat trug er in einer Umhängetasche. Langsam hob er ab, und William gab ihm vorsichtig über eine Winde mehr und mehr Höhe. Gordon winkte und jubelte. Weiter oben erfasste ihn ein leichter Wind, sodass er schräg über uns stand. William rollte Meter um Meter des Seiles ab. Ich lag auf dem Rücken, um Gordon zu beobachten. Aber ich hatte keine Angst um ihn. William holte das Fernglas aus dem Gepäck, um zu sehen, wie Gordon mit dem Fotoapparat klarkam. In diesem Moment veränderte sich das Geräusch der Winde. Sie rollte weiter ab, schneller, ungebremst, immer schneller. Ich wusste, das Seil war am Ende gut befestigt und die Winde mit langen Felshaken in den Boden geschlagen.

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