Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Abschiedsbriefe schrieb er jede Woche«, sagte sie. »Er erwartete seinen Mörder. Und die Briefe sollten den Mörder schützen, ihm Gelegenheit geben, ungestraft davonzukommen. Er sollte straffrei ausgehen, um Williams Arbeit fortzusetzen.«
»Er erwartete mich, gut. Aber mal angenommen, ich hätte ihn tatsächlich umgebracht. Mit welcher Methode soll ich das denn hingekriegt haben?«
Wachse drückte sich an Scotty vorbei und ging zur Tür.
»Was für eine absurde Idee«, sagte ich. »Mit dem Mord an ihm wollte er mich zugleich verpflichten, für ihn weiterzuforschen.
»Er dachte manchmal sehr kompliziert«, sagte Wachse.
Scotty wendete sich ab, betrachtete ihr Gesicht in einem Spiegel, rieb sich die Wangen.
Wachse blieb an der Tür stehen. »Es kann auch sein, dass er an einen ganz anderen Mörder dachte. Verdammt, ich glaube, er wollte, dass ich eingreife. Ich kannte ja die Abschiedsbriefe. Ich sollte seinen Tod wie einen Selbstmord arrangieren. Hätte ich das gemacht? Ich weiß es nicht. Vielleicht erwartete er auch von mir, dass ich ihn umbringe. Ich hatte genug Gründe dafür.« Sie ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
»Warum ist sie so wütend?«, fragte ich. Ich legte das Handtuch ab, öffnete den Schrank, um Hose und T-Shirt auszuwählen.
»Sie fühlt sich hintergangen.« Scotty war fertig angezogen, nur ihr Haar war noch nass. Sie betrachtete immer noch ihre Gesichtshaut im Spiegel. »Ich sehe aus wie eine Leiche.« Sie formte mit dem Mund ein O und rieb sich mit den Fingerspitzen die Wangen.
»Hintergangen? Wie geht das? Mir scheint mal wieder was zu fehlen, was normale Menschen in ihrem Gefühlsrepertoire haben.«
»Mach dir keine Sorgen.«
»Wie ist William Godin gestorben?«
»Ich muss hinter ihr her.« Scotty lüftete ihr Haar mit den Fingern.
»Warum? Mir fehlen ein paar Informationen. Was ist mit euch los?«
Scotty winkte ab. »Ich erklär das später.« Sie rannte hinter Wachse her. Ich hörte sie auf dem Hotelflur rufen.
Ich beschloss, nicht zu duschen, sprühte mir Deo auf die Haut und zog mich eilig an, rannte hinter den beiden her.
Hatte Wachse etwas mit Williams Tod zu tun? Oder hatte Scotty es als Selbstmord arrangiert? Was wollte Wachse erreichen? Vielleicht hatten die beiden es gemeinsam getan? Aber warum das alles zu solchen Ausbrüchen führte, war mir vollkommen unverständlich.
Ich klopfte an Wachses Zimmer. Es antwortete niemand. Ich betätigte die Klinke, die Tür war verschlossen. Ich lief vor das Hotel, versuchte, sie in dem Gewühl des Platzes zu entdecken. Ich sah in die benachbarten Bars, ohne Ergebnis. Langsam ging ich zurück und fand Scotty und Wachse im Speisesaal des Hotels. Sie saßen an einem von Gebäckkrümeln übersäten Tisch und hatten Cappuccino und gefüllte Cornettos vor sich. Sie lachten, strahlten mich an, als wäre ihnen eine besonders gute Theaterszene gelungen. Ich setzte mich zu ihnen, aber sie beachteten mich nicht. Sie erzählten sich ein Erlebnis von einer Chinareise. Warfen sich Bruchstücke von Erinnerungen, Halbsätze, Wörter zu und brachen jedes Mal in Lachen aus. Sie waren also beide mit William Godin unterwegs gewesen. Was war daran komisch?
Der Speisesaal hatte eine Bar. Ich trank meinen Kaffee dort, beobachtete die beiden. Es gefiel mir nicht, dass Scotty und Wachse etwas besaßen, an dem ich nicht teilhaben konnte. Und es gefiel mir nicht, dass mich das nicht gleichgültig ließ. Das wäre früher nicht mit mir geschehen.
Ton und Technik kamen herein. Sie hatten rote Gesichter und Schweißflecke auf ihren Hemden. Sie kamen zu mir und packten ein in Zeitungspapier gewickeltes technisches Gerät aus, präsentierten es mir voller Stolz. Ich nahm es in die Hand, drehte es. Es war eine Kombination von elektronischen Teilen und einer Art Kreiselkompass.
Sie waren sehr früh durch die Stadt gestreift und hatten das Teil bei einem Händler entdeckt. Es sei die Steuerung einer russischen Atomrakete, behaupteten sie. Und wahrscheinlich lagerte die Bombe dazu bei irgendeinem anderen Händler in der Stadt.
»Brauchen wir das?«, fragte ich.
»Man kann nie wissen.«
6
Ton und Technik hatten für die Reise nur die Kleidung mitgenommen, die sie auf dem Leib trugen. Kurze Hose, T-Shirt. Es schien ihnen selbstverständlich, alle Dinge, die man abends notfalls auswaschen und morgens wieder anziehen konnte, nur einmal mitzunehmen. Keinen Platz verschwenden. Ihre beiden großen Metallkoffer waren vollgepackt mit technischen Geräten,
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