Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Ich drehte mich um und sah erschrocken, wie sich der letzte Rest des Seiles abrollte und in die Höhe stieg. William hatte es gleichzeitig bemerkt. Mit einem Sprung versuchte er, das Ende des Seiles noch zu erreichen. Sein Körpergewicht hätte ausgereicht, den Ballon zu halten, wenigstens so lange, bis es uns allen gelungen wäre, das Seil um einen der niedrigen verkrüppelten Bäume zu schlingen. Er verfehlte es.
Gordon stieg höher und höher, und weiter oben erfassten ihn stärkere Winde, trieben ihn aufs Meer hinaus. Ich weiß nicht, ob er stumm war vor Entsetzen, oder ob er vor Angst geschrien hat. Er flog zu weit oben. Bald war er nur noch ein winziger Punkt, bald verschmolz er mit dem Himmel.
So schnell wir konnten, versuchten wir, an die Küste zu gelangen. Mit viel Geld überredete William einen Fischer, mit seinem Motorboot einen Tag und eine Nacht aufs Meer hinauszufahren. Immer Richtung Südwest, dem Wind und dem Ballon hinterher. Er fand nichts, keine Spur von Gordon.
Es war ein Albtraum, ein so schwerer Schock, dass ich nicht reden und nicht einmal weinen konnte. Ich befürchtete, Frank und Frederik würden diesen Augenblick als ewiges Trauma mit auf den Weg ihres weiteren Lebens nehmen. Ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
Aber es war nicht nötig. Die beiden liefen herum, mit aufgeblasenen Wangen und zusammengepressten Lippen, als könnten sie versehentlich platzen. Sie hielten es nicht lange aus, mussten es beichten. Ja, sie haben es beide gestanden. Es war ein Komplott. Frank hatte das Seil einige Tage vorher heimlich abgerollt und am Ende die Schlinge um die Walze zerschnitten. Und Frederik war es, der die Sperre an der Winde geöffnet hatte, sodass das Seil sich von allein abrollen konnte.
Was sollte ich mit den beiden machen? Was hättest du getan? William wollte Rache. Biblische Rache. Er wollte sie töten. Ich hielt ihn ab. Aber er vergaß ihre Tat nicht, nie. Er zwang Frank, eine Mörderin zu heiraten, entschuldige, es ist deine Mutter, aber es ist wahr. Sie ist eine Irre, hat ihre Familie umgebracht. Frederik versteckte sich vor ihm, fürchtete seine Rache. Aber irgendwann begann er von ganz allein, sich umzubringen.
Ich glaube, in diesem Moment von Gordons Flug in den Himmel habe ich einen Mann und alle drei Söhne verloren. Ich habe eine Schuld abzutragen, die darin besteht, dass ich der Welt etwas zurückgeben muss. Und das wird die Verschmelzung des Menschen mit der Natur sein, hoffe ich. Der Mensch und die Pflanze als Symbiose. Du weißt es ja.
Aber da ist noch etwas, das mir erst jetzt aufgegangen ist. William verheimlichte etwas vor mir. Und das konnte nur bedeuten, er hatte etwas entdeckt. Und er nahm es nicht mit, ließ es vor Ort. Es muss noch da sein. Der Berg bot ihm ein gutes Versteck.«
»Was soll das sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber nun habe ich eine neue Chance, etwas wiederzufinden oder zurückzugeben. Für Gordon, meinen Gordon. Ich will wissen, ob da etwas ist, das seinen Tod ein wenig aufwiegt. Etwas, das nicht nur einem Menschen, sondern vielen nützt. Deshalb bin ich hier. Denn wenn wir das finden, dann erst bin ich frei.«
5
»Wonach suchte William Godin wirklich?«, fragte ich in das Rauschen hinein. Scotty stand unter der Dusche des Hotels in Neapel. Sie antwortete nicht.
Ich glaube nicht, dass sie mich verstanden hatte. Meine Frage war auch nur als Geräusch gemeint, um mich bemerkbar zu machen. Ich freute mich darauf, die Türen der Duschkabine zu öffnen, die breiten Flüsse, Ströme, Bäche auf ihrem Körper zu sehen. Vorsichtig schob ich die Türen auf. Scotty lehnte an der türkis gekachelten Wand und ließ das Wasser über ihren vorgestreckten Bauch laufen. Es regnete mir ins Gesicht.
»Findest du, ich bin zu dick?«, fragte sie.
Ich streckte meine Hand aus, leitete mit einem Finger einen der Flüsse direkt in ihren Bauchnabel.
»Diese andere Frau«, sagte sie. »Sie ist sehr dünn, nicht wahr?«
»Auf ihrem Körper bilden sich Seen, bei dir fließt es.«
»Was suchtest du bei ihr?«
»Ich glaube, sie suchte etwas bei mir.«
»Und was war das?«
»Sie wollte durch mich erfahren, wer sie ist.«
»Von William Godin kann man auch behaupten, es ging ihm darum, herauszufinden, wer er war.« Sie löste sich von der Wand, stellte das Wasser ab.
»Das verstehe ich nicht.«
»Selbst ein Schuft will seinen Platz.«
»Ha! Unter seinem Platz sollen aber Gold und Silber verborgen sein oder archäologische Schätze.«
»Beides waren nur
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